Moskau

Was ein Floh aus Stahl über Russland verrät

Der Begriff „Importsubstitution“ hat in Russland wieder mal Hochkonjunktur. Das Ziel: Die Folgen der westlichen Sanktionen und den daraus folgenden Wohlstandsverlust schönzureden – ganz wie in einer alten Erzählung.

Was ein Floh aus Stahl über Russland verrät

Um das wirtschaftliche Zerwürfnis mit dem Westen klein- und den daraus folgenden Wohlstandsverlust schönzureden, wird in der russischen Öffentlichkeit kein zweiter Begriff so ausgewalzt wie derjenige der „Importsubstitution“. Vor allem seit der Annexion der Krim 2014 wird versucht, mit dem Dauergebrauch des Wortes den Hurrapatriotismus auch wirtschaftlich zu untermauern. Seit dem Überfall auf die Ukraine Ende Februar hat das Thema erst recht an Fahrt gewonnen.

Was inzwischen wie eine demonstrative Trotzigkeit wirkt, hat seine Wurzeln schon deutlich vor der Krim-Annexion. Ursprünglich war die Absicht, Produktion zu lokalisieren, gar nicht politisch aufgeladen. Das leuchtendste Beispiel war der Autosektor, wo Wladimir Putin die ausländischen Konzerne schon in den Nullerjahren mit einer Mischung aus Anreiz und Zwang dazu veranlasste, eine Fertigung im Inland aufzubauen. Der Effekt: Waren zu Beginn von Putins Regentschaft im Jahr 2000 noch so gut wie alle Neuwagen aus dem Ausland importiert, wurden zehn Jahre später die meisten bereits in inländischen Clustern produziert.

Nach 2014 konnte ein ähnlicher Erfolg auf dem Gebiet der Landwirtschaft verbucht werden. Mit dem Unterschied, dass hier schon nicht mehr westliche Investoren aktiv wurden, sondern sanktionierte russische Tycoons ihr aus dem Westen gerettetes Vermögen in den Ausbau der Landwirtschaft steckten und damit gleichzeitig politische Loyalität demonstrierten. Dass die russischen Verbraucher bei diesen Aktionen geschröpft wurden, weil sie in den jahrelangen Anpassungsphasen angesichts der fehlenden Konkurrenz einen höheren Preis für eine geringere Qualität zahlen mussten, versteht sich von selbst.

Bemerkenswerter ist, dass die Idee der Importsubstitution aufgrund der politischen Aufladung inzwischen immer mehr zur Losung, ja zu einem Wahn verkommt. Davor hat wohlgemerkt kürzlich sogar ein Kapazunder aus dem Establishment gewarnt – Sergej Tschemesow, Putins KGB-Kollege aus Dresdner Zeiten und heute Chef der auf Rüstungsindustrie und andere Hightech-Produktionen spezialisierten Staatsholding Ros­tec: Russland müsse Teil der globalen Welt bleiben, denn der Versuch, alles selbst zu machen, „ist ein Weg ins Nirgendwo“, sagte er.

Ohnehin sei mit den jüngsten Sanktionen „die ganze Konzeption der Importsubstitution gescheitert“, erklärte Oleg Wjugin, Ex-Zentralbank-Vizechef, im Interview der Börsen-Zeitung. Zuvor sei Russland in gewisser Weise den Weg Chinas gegangen, indem es Technologie aus dem Westen geholt und eine mehr oder weniger wettbewerbsfähige Produktion aufgebaut habe. Mit den neuen Sanktionen aber gibt es „keine Möglichkeit mehr, westliche Technologie zu übernehmen und sie zu erlernen“.

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Die politischen Hardliner ficht das freilich nicht an. Sie sind vom Schlage des General Platow in der wunderbaren Erzählung „Der Linkshänder“ von Nikolai Leskow aus dem Jahr 1881. Platow begleitet darin den Zaren Alexander I. im Jahr 1815 auf einer Reise nach England. Während der Zar von den Handwerkskünsten der Engländer hingerissen ist, hält Platow ständig dagegen, dass die russischen Fachleute ihnen in nichts nachstehen. Schließlich präsentieren die Engländer dem Zaren sogar einen Floh, den sie aus Stahl hergestellt haben und der – ausgestattet mit Aufziehmechanismus – so klein ist, dass man ihn fast nur durchs Mikroskop sehen kann. Völlig verzückt, kauft ihnen der Zar das Ding sogar ab.

Nach Alexanders Tod bittet Zar Nikolaus I. Platow, das Geheimnis des Flohkunstwerks zu entschlüsseln. Platow konsultiert drei russische Waffenschmiede, die nun ihrerseits den neuen Zaren verzücken, weil sie es in zwei Wochen geschafft haben, den kaum sichtbaren Floh auch noch mit Hufeisen zu beschlagen. Das verblüfft sogar die Engländer, so dass sie den führenden Waffenschmied – ein schielender Linkshänder – einbürgern wollen. Dieser aber zieht Russland vor. Dort stirbt er später verarmt und vernachlässigt in einem Krankenhaus. Nicht einmal seine letzte Nachricht, die wichtige Informationen zum Waffenreinigen enthält, wird an den Zaren weitergereicht. Die Folge: Russland verliert den Krimkrieg.

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