Kein gutes Wort

Ex-Chefstratege Cummings über Boris Johnson

Boris Johnsons ehemaliger Chefstratege Dominic Cummings (49) hat das Chaos, das während der Pandemie in 10 Downing Street herrschte, schonungslos offengelegt. „Es gab nicht einmal einen Plan dafür, all die Toten zu begraben“, sagte er während eines...

Ex-Chefstratege Cummings über Boris Johnson

Von Andreas Hippin, London

Boris Johnsons ehemaliger Chefstratege Dominic Cummings (49) hat das Chaos, das während der Pandemie in 10 Downing Street herrschte, schonungslos offengelegt. „Es gab nicht einmal einen Plan dafür, all die Toten zu begraben“, sagte er während eines mehrstündigen Auftritts vor einem Ausschuss des britischen Unterhauses, den Medien und Oppositionspolitiker freudig erwartet hatten. Cummings hatte angeboten, sich den Fragen der Parlamentarier zu stellen, und gab bereitwillig und detailliert Auskunft darüber, wie das Land völlig unvorbereitet in die Katastrophe schlitterte. Es habe keine Pläne für finanzielle Hilfen gegeben, kein Modell für die Kurzarbeit, die Schatzkanzler Rishi Sunak schließlich so erfolgreich zum Einsatz brachte – „Nichts, null, nada!“.

„Viel Scharlatanerie“

Die Ministerialbürokratie habe nicht einmal eine Telefon-Hotline für die Bürger einrichten wollen, weil man gedacht habe, ihnen ohnehin nicht helfen zu können. Denn man sei zu Beginn davon ausgegangen, dass man dem Virus nichts entgegenzusetzen habe. Impfstoffe erschienen den Auguren unerreichbar fern. Den Experten zufolge habe es nur die Wahl zwischen einer Infektionswelle im Sommer und einer einstweiligen Unterdrückung der Infektionen gegeben, der eine für den maroden National Health Service noch verheerendere Welle im Winter folgen würde. Man sei davon ausgegangen, dass sich die britische Bevölkerung einem Lockdown widersetzen würde. Es gebe eben „viel Scharlatanerie“ in der Verhaltensforschung, konstatierte Cummings. „Ostasiatische“ Me­thoden könne man in Großbritannien nicht anwenden, habe der Konsens gelautet. Zudem habe man geglaubt, dass Ländern wie China oder Singapur nach Ende der Ausgangsbeschränkungen ohnehin eine zweite Welle drohe. Auch Grenzschließungen seien für wirkungslos erachtet worden. Hinzu kam, dass Johnson Covid-19 für eine Art Schweinegrippe gehalten habe. Er habe von „Kung-Flu“ gesprochen und wollte sich angeblich von Chief Medical Officer Chris Whitty vor laufender Kamera mit Sars-CoV-2 infizieren lassen, um die Menschen im Land zu beruhigen. Man habe auch erwogen, die Bevölkerung zu „Windpockenpartys“ zu ermutigen.

Cummings’ Ausführungen zeigen, wie schnell sich scheinbare wissenschaftliche Gewissheiten als falsch erweisen können. Die Gesundheitsbürokratie sei nicht nur völlig unvorbereitet gewesen, sondern auch nicht in der Lage, schnell zu reagieren. Unklare Verantwortlichkeiten trafen auf Inkompetenz und mangelndes Problembewusstsein. Als die Infektionszahlen im vergangenen Sommer zurückgingen, habe man sich im Gesundheitsministerium zurückgelehnt, statt sich auf die Wiederkehr des Virus im Winter vorzubereiten.

Gesundheitsminister Matt Hancock habe gleich mehrfach gelogen, sagte Cummings. Am schwersten dürfte wiegen, dass er Johnson versichert haben soll, ältere Patienten, die aus Krankenhäusern in Pflegeheime verlegt werden, würden auf Covid-19 getestet. Sie wurden es nicht. Zahllose Heimbewohner infizierten sich deshalb und starben. Hancock habe auch behauptet, jeder erhalte die medizinische Behandlung, die er benötige. Dabei hatten ihn die obersten Berater der Regierung gerade über die erschreckenden Zustände im Gesundheitswesen informiert. Hancock habe auch gesagt, die Probleme bei der Versorgung mit Schutzkleidung seien gelöst. Dabei bestanden sie nach wie vor. Cummings wirkte nicht wie ein verbitterter Ex-Berater, der vor die Tür gesetzt wurde. Er kommt aber auch nicht auf die erforderlichen Sympathiewerte, um Johnson ernsthaft gefährlich werden zu können.