Raffaele Jerusalmi

Mailänder Börsenchef vor dem Abgang

Raffaele Jerusalmi steht seit elf Jahren an der Spitze der Borsa Italiana. Nun sind seine Tage an der Mailänder Börse wohl gezählt.

Mailänder Börsenchef vor dem Abgang

Von Gerhard Bläske, Mailand

Seit elf Jahren steht Raffaele Jerusalmi (60) an der Spitze der Borsa Italiana. Doch die Tage des passionierten Schach- und Bridgespielers sowie Trägers des schwarzen Gürtels im Judo bei der Mailänder Börse sind gezählt, obwohl sein Mandat noch bis 2023 läuft. Der neue Eigner Euronext will ihn offenbar loswerden, schreiben italienische Zeitungen. Und Jerusalmi will seinen guten Namen nicht aufs Spiel setzen und Befehlsempfänger von Stéphane Boujnah, CEO der französisch dominierten Mehrländerbörse, werden.

Boujnah will den international geschätzten Börsenchef zum Country Manager degradieren – ohne eigene Befugnisse. Beim alten Eigner, der Londoner LSE, die die Borsa Italiana 2020 aus kartellrechtlichen Gründen verkaufen musste, saß er im Board, bei Euronext nicht.

Jerusalmis Befugnisse bei der Mailänder Börse waren die Voraussetzung für seine Erfolge. Er hat die Börse in Schwung gebracht, die Internationalisierung des Finanzplatzes vorangetrieben und – durch die Schaffung des Kleinwertesegments AIM – IPOs für heimische Mittelständler attraktiv gemacht. Obwohl sich zuletzt auch wegen der Übernahme durch Euronext Delistings häuften, stieg die Zahl der börsennotierten Unternehmen seit 2009 von 296 auf 475. Mit der LSE gründete Jerusalmi auch das Projekt „Elite“. In- und ausländische Interessenten werden dabei geschult, um zu erkennen, wie ein Börsengang für sie interessant werden kann. Heute betrachten viel mehr der vielen Mittelständler Italiens die Notierung am Aktienmarkt als einen Weg für ihr Wachstum, aber im internationalen Vergleich sind es zu wenige.

Der gebürtige Mailänder Jerusalmi, der an der Bocconi-Universität seiner Heimatstadt Wirtschaft studiert hat und mehrere Jahre für die Credit Suisse First Boston in London arbeitete, bevor er 1998 zur Borsa Italiana kam, gehörte 2007 zu den Drahtziehern ihrer Privatisierung. Auch bei der Fusion mit der LSE spielte er eine wichtige Rolle.

Die umstrittene Übernahme der Borsa durch Euronext ist auch durch den bevorstehenden Abgang Jerusalmis wieder in den Blickpunkt gerückt. Euronext will angeblich 200 der 700 Stellen in Mailand abbauen, um Synergien von 60 Mill. Euro pro Jahr realisieren zu können – gerade jetzt, wo der Finanzplatz Italiens Wachstum besonders unterstützen soll. Der Unmut darüber, dass der damalige Wirtschaftsminister Roberto Gualtieri von der sozialdemokratischen PD Euronext seinerzeit den Zuschlag gab, ohne Gegenangebote der Deutschen Börse und der Schweizer Six überhaupt gekannt zu haben, sorgt nun parteiübergreifend für Ärger.

Die angesehene Wirtschaftszeitung „Milano Finanza“ ist der Auffassung, die Börsenaufsicht Consob, aber auch die italienische Förderbank Cassa Depositi e Prestiti (CDP), die mit 7,3% an Euronext beteiligt ist, könnten die Fusion blockieren, wenn Euronext die Versprechungen gegenüber Italien im Hinblick auf die Autonomie der Borsa nicht einhält. Denn die Borsa Italiana trägt deutlich mehr als ein Drittel zum Umsatz und über 50% zum Euronext-Gewinn bei, ist aber in der Governance der Mehrländerbörse stark unterrepräsentiert. „Sie ist eine Goldmine, ein strategisches Asset“, sagte Roberto Sommella, Chefredakteur von „Milano Finanza“, der Börsen-Zeitung. Er ist der Auffassung, die Aufsicht müsse notfalls intervenieren. Die Stunde der Wahrheit komme mit der Vorstellung des neuen Euronext-Strategieplans im November und der Auswahl des Jerusalmi-Nachfolgers: Entweder setzt sich die Boujnah-Kandidatin Barbara Lunghi oder der CDP-Favorit Alessandro Decio durch.

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