Corporate Governance

Anfang vom Ende der virtuellen Haupt­versammlung

Mit der Nachbesserung der Gesetzespläne droht Anteilseignern und Unternehmen der Rückfall in die alten Denkmuster der unattraktiven und langwierigen Aktionärstreffen.

Anfang vom Ende der virtuellen Haupt­versammlung

Von Christoph H. Seibt und

Christopher Danwerth*)

Am 27. April hat das Bundeskabinett ein Gesetz zur pandemieunabhängigen, dauerhaften Einführung einer virtuellen Hauptversammlung (HV) beschlossen. Dieser Regierungsentwurf (RegE) weicht erheblich vom im Februar vom Bundesministerium der Justiz (BMJ) vorgelegten Referentenentwurf ab.

Der von Unternehmenspraxis und Wissenschaft weiterhin gelobte BMJ-Entwurf war von drei gleichberechtigten Aspekten geprägt: Digitalisierung, Vorverlagerung der Rechtsausübung und Entzerrung der Versammlung. Zwar erkennt auch der RegE die Entwicklung, dass sich Informations- und Entscheidungsprozesse in das Vorfeld der Versammlung verlagert haben, ausdrücklich an. Konträr dazu werden aber die bewährten Instrumente zur Vorverlagerung der Ausübung der Aktionärsrechte nahezu vollständig gestrichen. Damit entfällt zugleich das erstrebenswerte Ziel der Entzerrung der Versammlung. Statt eines innovativen, wettbewerbsfähigen, kurz: fortschrittlichen Konzepts versucht die Bundesregierung die – sowieso reformbedürftige – Präsenz- und Bürokratie-HV in die digitale Welt zu zwingen.

Beim Versuch, digitale und analoge Welt zusammenzuführen, schießt die Bundesregierung teilweise über das Ziel hinaus und gewährt Aktionären Rechte, die ihnen selbst in der Präsenz-HV nicht zustünden. Der Geburtsfehler des RegE ist der Irrglaube, die Rechtewahrnehmung durch die Aktionäre weitgehend gleich wie bei der von ihr als Ideal angenommenen Präsenzversammlung gestalten zu müssen. Die „in den letzten beiden Jahren gesammelten grundsätzlich positiven Erfahrungen“ mit der virtuellen HV ignoriert der RegE ohne Not fast vollständig.

Gegenüber der Praxis der vergangenen beiden Jahre und dem BMJ-Konzept schwächt der RegE das in der Praxis immer wichtiger werdende HV-Vorfeld erheblich. Aktionäre, die sich elektronisch zur Versammlung zuschalten, sollen nun sowohl spontane Gegenanträge als auch Wahlvorschläge in der Versammlung stellen können. Nach der Entwurfsbegründung soll dies alle Anträge, insbesondere auch den Antrag auf Bestellung eines Sonderprüfers, erfassen. Dies markiert nur eine scheinbare Stärkung der Aktionärsrechte, da regelmäßig die mehrheitsentscheidenden Stimmen bereits Tage vor der HV abgegeben werden.

Gefahr von Zufallsmehrheiten

Damit ist die Gefahr von Zufalls-mehrheiten unter Ausschluss insbesondere internationaler Investoren augenscheinlich. Relativ wenige, in der HV live abgegebene Stimmen können die Aktionärsdemokratie so aushöhlen. Damit wird für die Praxis die Möglichkeit noch wichtiger, bei der Weisung an den Stimmrechtsvertreter vorzusehen, bei nicht zuvor bekannt gemachten Anträgen stets mit der Verwaltungsempfehlung zu stimmen. Zufallsmehrheiten ließen sich so verhindern – der intendierten Stärkung der Aktionärsrechte wird jedoch mit einer solchen „Blankooption“ ein Bärendienst erwiesen.

Der RegE schreibt ein Rederecht im Wege der Videokommunikation, also live in der Versammlung vor. Das im BMJ-Entwurf vorgesehene, mit Blick auf das Auswahlverfahren indes verbesserungsbedürftige Vorverfahren entfällt leider ersatzlos. Mehr noch: Ein Ausübungszeitraum für und eine angemessene Zahl von Redebeiträgen kann nach dem RegE nicht vorgesehen werden. Selbst vorab veröffentlichte Stellungnahmen können nach dem RegE in der Versammlung erneut vorgetragen werden. Der Versammlungsleitung stehen nur die aus der Präsenz-HV be-kannten Werkzeuge wie die Schließung der Rednerliste oder die Verkürzung der Redezeiten zur Verfügung. Das Durchhaltevermögen der Aktionäre dürfte demnach wie bislang bei der Präsenz-HV deutlich auf die Probe gestellt werden. Zumal einerseits die psychologischen Hürden bei der Präsenzversammlung wegfallen, andererseits die Aufmerksamkeitsspanne vor dem Bildschirm mitunter deutlich geringer sein dürfte als bei persönlicher Anwesenheit.

Die Ausgestaltung des Auskunftsrechts in der virtuellen HV wurde im RegE grundlegend überarbeitet. Möglich bleibt vorzugeben, dass Aktionärsfragen bis spätestens drei Tage vor der Versammlung elektronisch einzureichen sind. Spätestens am Tag vor der Versammlung sind dann die Antworten im Internet zu veröffentlichen. Bleiben die Antworten bis zum Ende der virtuellen HV abrufbar, darf der Vorstand in der Versammlung die Auskunft zu diesen Fragen verweigern. Um eine Aushöhlung dieses Verweigerungsrechts zu vermeiden, sollte es auf in Redebeiträge gehüllte Fragen erstreckt werden. Unklar bleibt, ob Fragen – wie an sich wünschenswert – zusammengefasst werden dürfen. Zu allen veröffentlichten Antworten steht allen Aktionären, nicht nur dem eigentlichen Fragensteller, ein Recht auf Nachfrage zu (Über-Kreuz-Fragen). Das Nachfragerecht erstreckt sich auch auf Redebeiträge und wohl auch auf Nachfragen. Zwar kann durch die Möglichkeit zur Vorverlagerung des Fragerechts die HV potenziell entzerrt werden. Gleichwohl soll dem Aktionär nun zusätzlich in der HV das Recht zustehen, Fragen erstmals zu stellen. Dieses Live-Fragerecht besteht in einem ersten Schritt nur in Bezug auf Sachverhalte, die sich in den drei Tagen vor der HV ergeben haben, also insbesondere Presseberichte. Auch wenn die Abgrenzung auf Grundlage eines objektiven Maßstabs zu erfolgen hat, ist schon jetzt erkennbar, dass sie im Einzelfall sehr schwierig und damit anfechtungsrelevant sein wird.

Frustrationspotenzial

Sind Nachfragen und Nachfragen zu Nachfragen beantwortet, Redebeiträge abgehandelt, Fragen zu neuen Sachverhalten und Redebeiträgen beantwortet, haben Aktionäre schließlich das Recht, auch Fragen, die bereits vorab hätten gestellt werden können, zu stellen. Nur wenn ein aus Sicht des Versammlungsleiters angemessener Zeitraum der Versammlung erreicht ist (bislang waren das regelmäßig 4 bis 6 Stunden), müssen derartige Fragen nicht zugelassen werden. Fest steht: Wer Rechtssicherheit will, wird keine Frage zurückweisen und Marathonversammlungen in Kauf nehmen.

Dieses Modell zeigt sich überbemüht, das Auskunftsrecht aus der Realität der Präsenz-HV in die virtuelle HV zu überführen. Neben schwierigen Abgrenzungsthemen im Hinblick auf die unterschiedlichen Fragenarten besteht bei dem skizzierten Modell die sehr reale Gefahr, dass eine zwar belebte, sich aber auf wichtige (Strategie-)Fragen konzentrierende Debatte im virtuellen Raum nicht stattfinden kann. Zudem besteht keine Möglichkeit, das Funktionieren der Technik auf Aktionärsseite im Vorfeld zu testen und damit während der Versammlung zu gewährleisten. Auch birgt die strikte Kaskadierung von Fragen Frustrationspotenzial bei den Aktionären, weil Fragen aus Rechtsgründen nicht sofort beantwortet, sondern zunächst zurückgestellt werden (müssen) und letztlich gegebenenfalls unbeantwortet bleiben. Zu­dem werden Wartezeiten unvermeidbar sein, um (Nach-)Fragen zu sammeln und zu kategorisieren. In den Zeiten der Präsenz-HV lockte dann die „Würstchendividende“, im virtuellen Raum gibt es nur ein Standbild mit ungewissen Wartezeiten.

Bei aller Kritik soll nicht unerwähnt bleiben, dass der RegE diverse Anregungen aus der bisherigen Fachdiskussion aufgreift. Viele terminologische Unschärfen werden beseitigt, geforderte Klarstellungen aufgenommen, das Fristenregime im Vorfeld ausgewogener gestaltet. Eine Verbesserung ist auch die Erstreckung des Freigabeverfahrens auf den Beschluss über die Satzungsänderung zur Einführung der virtuellen HV. All diese Detailänderungen sind zu begrüßen, allerdings weist der RegE insgesamt in die falsche Entwicklungsrichtung, er ist rück- und gerade nicht fortschrittlich. Die virtuelle HV, die in den letzten beiden Jahren den „proof of concept“ überzeugend geliefert hat, wird auf Grundlage des RegE kaum eine praktische Zukunft haben. Das Regierungskonzept ist eine unnötig verpasste Chance. Sollte der Bundestag den RegE in derzeitiger Form beschließen, droht der Rückfall in die alten Denkmuster der unattraktiven, langwierigen Versammlung für wenige. Es dürfte der Anfang vom Ende der virtuellen HV deutscher Aktiengesellschaften sein.

*) Christoph H. Seibt, Partner von Freshfields Bruckhaus Deringer und Honorarprofessor Bucerius Law School, und Christopher Danwerth, General Counsel der Linus Digital Finance AG

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