Taro Niggemann

„Amazon ist ein Minenfeld von Herausforderungen“

Auf dem Marktplatz von Amazon tummeln sich viele unabhängige Marken. Ihr Direct-To-Consumer-(D2C-)Geschäft zieht wachsendes Interesse von E-Commerce-Firmen an. The Stryze Group aus Berlin ist eine davon. Mitgründer und Finanzchef Taro Niggemann spricht im CFO-Interview über die Treiber der Entwicklung, über virtuelles Immobilienvermögen und die nächste Finanzierungsrunde.

„Amazon ist ein Minenfeld von Herausforderungen“

Stefan Paravicini

Herr Niggemann, das Thema E-Commerce ist plötzlich wieder ein Renner für Investoren. Start-ups wie die Stryze Group haben in den vergangenen 18 Monaten 9 Mrd. Dollar eingesammelt und kaufen Online-Händler, die sich auf Marktplätzen wie Amazon bewiesen haben. Was sind die Treiber dieser Entwicklung?

E-Commerce war in den vergangenen Jahren kein so heißes Thema in der Technologieszene, das stimmt. Das hat sich zuletzt verändert und dafür gibt gleich mehrere Gründe. Der eine ist sicherlich Technologie. Es gibt einfach einen starken Business Case für den Einsatz von daten- und technologiegetriebenen Geschäftsmodellen im E-Commerce. So sind auch einige neue Technologiegeschäftsmodelle im Umfeld des E-Commerce entstanden wie Anbieter von Marktdaten oder technologisierte Steuerdienstleister. Zweitens gibt es sehr viel Kapital im Markt und E-Commerce-Marken werden von manchen Investoren als eine neue Assetklasse gesehen. Drittens sehen wir wegen der Pandemie eine noch einmal stark beschleunigte Verschiebung vom Offline- zum Online-Handel. Schließlich haben wir auch noch globale Lieferketten-Probleme, die dazu führen, dass sich ganze Branchen neu aufstellen. Das schafft eine große Dynamik in vielen Produktmärkten – eine Herausforderung für den E-Commerce, aber auch eine Chance.

Und deshalb sind unabhängige Direct-To-Consumer-(D2C-)Marken mit Präsenz auf Amazon plötzlich ein interessantes Übernahmeziel?

Nicht ausschließlich – neben den veränderten Rahmenbedingungen für E-Commerce gibt es unter Investoren aber auch eine neue Wahrnehmung der Chancen und Risiken für unabhängige D2C-Marken auf Online-Marktplätzen wie Amazon. Sie sind zwar weiterhin stark abhängig vom Plattformbetreiber und das ist sicherlich ein gewisses Risiko. Wer sich aber einmal ein attraktives Online-Listing auf einer solchen Plattform erarbeitet hat, besitzt damit eine attraktive Online-Ladenzeile, die von Investoren zunehmend als virtuelles Immobilienvermögen wahrgenommen wird.

Die Stryze Group hat im Frühjahr 100 Mill. Dollar bei Investoren eingesammelt und will auf der Jagd nach Virtual Real Estate mitmischen. Wie sieht denn der Wettbewerb aus?

Es gibt ein paar neue Spieler, die seit ein, zwei oder maximal drei Jahren auf dem Markt sind. Das sind die sogenannten Aggregatoren, in Berlin zum Beispiel Razor Group oder SellerX. Im Prinzip sind das Finanzinvestoren, die den Wert dieses Geschäftsmodells gesehen haben, es als Assetklasse sehen und akquirieren. Manche von denen integrieren voll, manche sind eher Finanzholdings, die sich unterschiedliche Marken zusammenkaufen und sie erst einmal nebeneinander führen.

Gehört da auch Berlin Brands Group dazu, die gerade 700 Mill. Dollar von Bain Capital eingesammelt hat?

Berlin Brands Group gehört zu den etablierten E-Commerce-Adressen, die schon wesentlich länger als die Aggregatoren am Markt sind. Die hatten ursprünglich gar nichts mit Akquisitionen zu tun, sondern haben eigene Marken aufgebaut, Zulieferer gesucht, Produkte für diese Marken gefunden und entwickelt und sind seit Jahren erfolgreich am Markt.

Wo würden Sie die Stryze Group einsortieren?

Wir sehen uns eher wie eine kleinere Berlin Brands Group, weil wir eine Historie im E-Commerce haben. Wir sind zwar erst Ende des vergangenen Jahres gestartet, haben mit Manuco aber ein Unternehmen eingebracht, das seit 2016 eigene Online-Marken im Segment nicht-elektronischer Produkte für Küche, Haustiere und Garten entwickelt hat. Der Umsatz, den wir mit Akquisitionen machen, übertrifft erst seit kurzem unser organisch gewachsenes Geschäft.

Allein Berlin Brands Group, Razor Group, SellerX und Stryze Group haben in einem Jahr fast 2 Mrd. Dollar von Investoren erhalten (siehe Grafik). Waren die Investoren gleich Feuer und Flamme?

Wir haben vor zwei, drei Jahren schon Gespräche mit Investoren gesucht, um Kapital für den Einkauf von erfolgreichen Marken zu verwenden und so schnelleres Wachstum zu erreichen sowie Synergieeffekte zu heben. Das war noch komplett neu und damals hat dafür keiner Geld gegeben.

Und dann haben es die Investoren von Thrasio vorgemacht?

Das US-Start-up Thrasio war die erste Firma, die es geschafft hat, im größeren Stil Kapital aufzunehmen und diese Mittel zu 100% für den Kauf kleinerer E-Commerce-Geschäfte einzusetzen. Das war damals revolutionär. Thrasio hatte keine organisch gewachsene Basis, die haben einfach angefangen, ein Portfolio zusammenzukaufen. Und wie immer, wenn etwas in den USA funktioniert, gibt es in Europa Leute, die auf den Zug aufspringen. So sind Unternehmen wie Razor Group, SellerX oder auch die britische Heroes entstanden.

Und die investieren jetzt Milliarden in Online-Marken für Produkte, die Amazon vielleicht schon morgen selbst anbietet?

Amazon hat den Zugang zum Kunden und diese Abhängigkeit bleibt ein Risiko, das ist klar. Aber wird Amazon in der Lage sein, bei der unglaublichen Anzahl von Produkten, die es weltweit gibt, in jeder Nische vorne mitzuspielen? Und werden die Regulatoren das erlauben? Das Amazon-Risiko wird von Investoren mittlerweile als handhabbar betrachtet. Auf der anderen Seite werden die Vorteile, die mit attraktivem Virtual Real Estate verbunden sind, klarer gesehen. Als Händler muss man auf der Plattform so positioniert sein, dass man den Löffel in die Mitte des Kundenstroms halten kann, den Amazon anzieht. Wenn man das nachhaltig hinbekommt, ist das ein Wert, der von Investoren gesehen wird.

Was wird einer gut funktionierenden Online-Marke auf Amazon denn für ein Wert beigemessen?

Man zahlt für so ein Geschäft einen Preis in der Größenordnung des drei- bis fünffachen Jahresgewinns. Die Multiplikatoren sind im Vergleich zu etablierten Branchen relativ niedrig. Das hat zum einen mit der Abhängigkeit von Amazon zu tun, zum anderen aber auch mit der Größe und der Abhängigkeit vom Gründer. Denn im Segment von 1 Mill. bis 10 Mill. Euro Kaufpreis, in dem wir uns bewegen, gibt es neben dem Gründer häufig kein Team. Das sind keine Geschäfte, die ein Private-Equity-Fonds kaufen könnte, dafür braucht man Expertise und ein starkes Team, das die ge­samte Wertschöpfungskette des Geschäftsmodells abdecken kann. Die Geschäfte sind oft noch relativ jung. Das führt dann insgesamt dazu, dass im Vergleich zu anderen Branchen die Multiplikatoren geringer sind, was wiederum den Einsatz von Fremdkapital erleichtert.

Ist das auch der Grund für den hohen Anteil an Fremdkapital in den Finanzierungsrunden von Aggregatoren in Deutschland?

Der Venture Debt Markt wächst ja generell und das bringt Gründer und Frühphaseninvestoren in eine starke Position, aus der heraus sie sich immer öfter gegen eine Verwässerung ihrer Anteile entscheiden können. Hinzu kommt im Falle unserer Branche, dass es sich bei den Übernahmezielen um profitable Unternehmen handelt. Kein Amazon-Händler, der so ein Geschäft in Eigenregie betreibt, wird das lange machen, wenn er dabei nicht profitabel ist. Natürlich ist der eine oder andere Aggregator nicht profitabel, denn da werden große Teams aufgebaut und da wird in die Zukunft investiert. Profitabilität hängt in diesem Fall davon ab, wie schnell man wachsen möchte und mit der Entwicklung der Organisation in Vorleistung geht, zum Beispiel durch Investitionen in Technologie. Die einzelnen zugekauften Geschäfte sind immer profitabel.

Welche Kernkompetenzen muss man haben, um D2C-Marken erfolgreich zu führen?

Man muss unterschieden zwischen den Kompetenzen, die man braucht, um das Geschäft organisch zu entwickeln, und den zusätzlichen Fähigkeiten eines starken Aggregators. Es gibt ein paar Unternehmen, die haben beides. Manche Aggregatoren haben aber überhaupt keine Erfahrung mit dem Betrieb von Marken. Es gibt in den USA einen Fall, bei dem das Geschäft der Marken nach der Übernahme um 70% eingebrochen ist. Es ist also nicht so trivial, wie sich das anhört.

Fangen wir mit den organischen Fähigkeiten an.

Organisch muss man zunächst wissen, wie E-Commerce funktioniert und sehr spezifisch, wie Amazon funktioniert. Amazon ist ein Minenfeld von Herausforderungen und man muss tagtäglich Schwierigkeiten aus dem Weg räumen. Da werden sehr schnell Produkte gesperrt, da gibt es unfaire Geschäftspraktiken von anderen Händlern, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Man muss etwas von Einkauf und Logistik verstehen. Man braucht Know-how in Werbung und Marketing. Und all das muss ineinandergreifen, damit die Produkte zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind und die Endkunden zufrieden sind.

Und als Aggregator?

Als Aggregator muss man Expertise bei der Finanzierung und Strukturierung auf der Kapitalseite sowie M&A-Kompetenz mitbringen. Man muss verkaufswillige attraktive Geschäfte identifizieren, idealerweise die, an denen nicht alle anderen auch schon dran sind. Man braucht eine effektive Due Diligence, das ist Handwerk. Der letzte Punkt ist dann die effektive Integration in das eigene Geschäft und da gibt es große Unterschiede. Wir integrieren die meisten Akquisitionen von Anfang an voll. Andere kaufen erst ein und überlegen in einem zweiten Schritt, wie die Integration läuft.

Warum kann eine Firma wie die Stryze Group Online-Marken und ihren Virtual Real Estate auf Amazon eigentlich besser betreiben als der einzelne Händler?

Das ist ein Geschäftsmodell, bei dem es ganz klar hilft, wenn man groß ist. Es gibt im D2C-Segment im Gegensatz zu anderen Start-up-Branchen zwar keine Netzwerkexternalitäten zu beachten und man muss auch keine Minimumgröße erreichen, um große Fixkosten zu decken. Aber wenn man größer ist, hat man enorme Kostenvorteile beim Einkauf, man bekommt beim Transport das Gehör der Spediteure und Logistiker, man erhält bessere Lagerkonditionen, kann sich spezialisierte Marketingexperten leisten und verfügt über die besseren Softwaretools. Wir entwickeln unsere eigenen Daten- und Business-Intelligence-Lösungen. Das kann sich ein kleiner Händler nicht leisten. Er hat es auch schwerer, an Kapital zu kommen, um sein Wachstum zu finanzieren. Größere Unternehmen können hier daher langfristig erfolgreicher sein als kleinere.

Klingt so, als wird die Konsolidierung von einzelnen Marken nicht das Ende der Entwicklung sein.

Die Erwartung im Markt ist die, dass auch zwischen Aggregatoren Zusammenschlüsse stattfinden werden. Das Jahr 2021 ist das Jahr, in dem viele neue Spieler damit begonnen haben, M&A-Teams aufzubauen und erste Akquisitionen durchzuführen, mehr Kapital aufzunehmen und ihr Geschäftsmodell aufzubauen. 2022 könnte das Jahr sein, in dem die Konsolidierung unter den Konsolidierern beginnt.

Welche Rolle trauen Sie der Stryze Group dabei zu?

Wo wir am Ende des Konsolidierungsspiels stehen werden, kann man jetzt noch nicht absehen. Unser Fokus ist, ein funktionierendes Unternehmen aufzubauen. Dabei setzen wir sowohl auf weiteres organisches Wachstum als auch auf M&A. Wir sind kein Start-up, das, so schnell wie möglich und egal auf welchem Weg, auf die Milliardenbewertung losrennt. Wir gehen das etwas nachhaltiger an, auch was den Anspruch an die Reputation der eigenen Marke betrifft. Neben einem Brancheninsider wie Upper 90 und einem klassischen Risikokapitalgeber wie Alstin Capital haben wir mit einer deutschen Stiftung anders als die meisten Aggregatoren auch einen Investor an Bord, der besonders langfristig orientiert ist.

Gibt es für die Stryze Group be­reits Pläne für eine weitere Finanzierungsrunde?

Bis Jahresende sollen etwa 30 Mill. bis 50 Mill. Euro Eigenkapital und 150 Mill. bis 200 Mill. Euro Fremdkapital für weitere Akquisitionen und den Ausbau der Gruppe hinzukommen. Dabei wollen wir auch neue Investoren an Bord nehmen.

Am Ende steht die Übernahme durch einen Großen oder ein Börsengang?

Wo das hinführt, muss man sehen. Grundsätzlich sind alle Exitkanäle relevant bei diesem Geschäftsmodell. Klar ist, dass man irgendwann einen Exit erreichen muss, sobald man Venture Capital an Bord hat. Es kann ein Börsengang sein, wie ihn Thrasio laut Presseberichten bereits via Spac im Auge hat. Es kann ein Verkauf an Private Equity oder an einen Strategen sein, denn natürlich haben auch die großen Handelsunternehmen in Europa ein Auge auf den Markt geworfen. Aber auch ein Zusammenschluss mit einem Wettbewerber ist möglich. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir im Laufe der Zeit alle vier Varianten im Markt sehen werden.

Das Interview führte

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