Glasindustrie

Ein Traditions­handwerk droht zu zerbrechen

Die exorbitant gestiegenen Energiepreise haben Glasproduzenten schon vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine schwer zu schaffen gemacht. Die Möglichkeit eines Stopps russischer Gaslieferungen versetzt die Branche nun aber in richtige Existenzängste.

Ein Traditions­handwerk droht zu zerbrechen

Von Karolin Rothbart, Frankfurt

Glas frisst richtig viel Energie. Bei der Herstellung müssen Sand, Soda, Kalk, Pottasche und Kalisalpeter auf über 1500 Grad Celsius erhitzt werden, damit daraus einer der ältesten und nach wie vor wichtigsten Werkstoffe der Menschheit entsteht. Unternehmen, die in diesem Handwerk tätig sind, haben oft schon mehrere Jahrhunderte und Generationen überdauert – so zum Beispiel Heinz-Glas aus dem oberfränkischen Kleintettau oder Wiegand Glas aus Steinbach, auch Oberfranken.

Seit einiger Zeit steht die Zukunft dieser Unternehmen und der gesamten Branche nun aber auf der Kippe. Anfangs ging es „nur“ um den Energiepreisschock, der die Produktion immer unwirtschaftlicher gemacht hat und die oben genannten Firmen gemeinsam mit dem Glasveredeler Roeser dazu veranlasste, sich mit einem Warnvideo unter dem Titel #alarmstuferot an die Öffentlichkeit zu wenden. „Es liegt derzeit ein krasses Marktversagen vor“, hieß es darin vom Vizepräsidenten der IHK Oberfranken Bayreuth, Hans Rebhan. Die Energiepreise würden um 500 % über dem Niveau von vor einem Jahr liegen. 8000 von 23000 Arbeitsplätzen seien bedroht.

Das war vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Seitdem hat die Krise in der Industrie noch mal eine ganz andere Dimension er­reicht. Denn das Problem der steigenden Preise lässt sich je nach Spielraum der Firmen zu einem gewissen Teil oft noch durch langfristige ­Gaslieferverträge, Hedginggeschäfte und durch die Erhöhung der eigenen Verkaufspreise abfedern. Für das Risiko eines Gasembargos, an dem die Branche sprichwörtlich zerbrechen würde, lässt sich derzeit jedoch keine zusätzliche Vorsorge treffen.

„Wir arbeiten in der Glasher­stellung schon jetzt am technisch-physikalischen Minimum“, sagt Johann Overath, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Glasindus­trie e.V., im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. „Die Energiesparpotenziale sind nahezu vollständig ausgeschöpft.“ Der Verband vertritt derzeit rund 400 Betriebe in Deutschland mit etwa 56000 Beschäftigten. In keinem Land Europas gibt es mehr Glas produzierende Unternehmen. Deren Schmelzwannen, von denen es hierzulande mehr als 100 Stück gibt, werden zum ganz überwiegenden Teil mit Erdgas betrieben.

„In der fossilen Welt ist es das Beste, was man machen kann“, sagt Overath. Der Energieträger gilt im Vergleich zu anderen Nichterneuerbaren als eher schadstoffarm und weist beim Verbrennen den geringsten CO2-Ausstoß auf. Den Einsatz von deutlich umweltschädlicherem Schweröl haben die Unternehmen in den vergangenen 10 bis 15 Jahren sukzessive heruntergefahren. Mittlerweile liegt der Anteil am Energieverbrauch nur noch bei 2 %.

Natürlich soll aber auch die Glasproduktion eines Tages komplett klimaneutral sein. Dazu muss die Glasschmelzwanne entweder vollständig elektrifiziert oder in der Hybridversion mit erneuerbarem Strom und Wasserstoff betrieben werden. Schon jetzt gibt es einige Fälle, in denen Firmen mit einem geringen Anteil an Strom über elektrische Zusatzheizungen am Wannenboden arbeiten. „Technologisch ist hier aber noch nicht mehr als 10% möglich“, sagt Overath.

Kein Umbau über Nacht

Die elektrischen Schmelzwannen, die es bereits gibt, sind für die Verhältnisse in der industriellen Glasproduktion noch zu klein. Das Fassungsvermögen liegt hier bei lediglich 100 bis 200 Tonnen Glas – eine durchschnittliche Flachglaswanne erzeugt aber bis zu 1000 Tonnen Glas pro Tag.  Es ist nicht auch ganz trivial, die Anlagen einfach größer zu bauen. Denn die Zahl der Elektroden, die in das Glasbad hineingetaucht werden, lässt sich nicht beliebig erhöhen. Je größer aber der Abstand der Elektroden in den Wannen wird, umso größer wird das Risiko, dass nicht alle Ausgangsstoffe gleichmäßig geschmolzen werden. Overath geht davon aus, dass die ersten größeren Elektrowannen ab 2030 zur Verfügung stehen.

Bis dahin hängt in der Branche also alles noch am Erdgas. Im vergangenen Jahr haben die Unternehmen knapp 2% vom deutschlandweiten Verbrauch des Energieträgers ausgemacht – fast 50000 Terajoule, weit mehr als die deutsche Fahrzeugindustrie, wie aus einer Studie des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft hervorgeht. Nicht nur deshalb ist die Sorge vor einem Gaslieferstopp groß. Es kommt auch noch ein anderes, sehr akutes Problem hinzu.

„Wenn das Gas kurzfristig weg ist, dann gehen unsere Glaswannen kaputt“, erklärt Overath. Denn die Schmelzöfen sind nicht darauf ausgelegt, im Falle einer Versorgungsknappheit mal eben heruntergefahren zu werden. Einmal in Betrieb, werden sie stattdessen bis zu 20 Jahre lang ohne Unterbrechung befeuert. Wenn das Feuer ausgeht, besteht die Gefahr, dass die Wanne bricht und bis zu 2500 Tonnen flüssiges Glas erstarren. Ein irreversibler Schaden, dessen Behebung mehrere Jahre dauern und bis zu 50 Mill. Euro Kosten verursachen kann.

Die Hilferufe kommen an

Die meisten Unternehmen sind gegen solche Schäden nicht versichert. In ihrer Angst um die eigene Existenz bemühen sich viele Firmen entsprechend verstärkt darum, ihre Bedeutung für den Industriestandort Deutschland hervorzuheben. „Wir sind systemrelevant“, hatte Gerresheimer-CEO Dietmar Siemssen Anfang April wiederholt betont. Als einem von weltweit nur drei Herstellern von Impfstofffläschchen aus Borosilikatglas sei ihm das bereits in der Pandemie bescheinigt worden. Das Geschäft mit gläsernen Verpackungen für die Pharma-, Kosmetik- sowie Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie trägt bei dem MDax-Unternehmen derzeit etwa die Hälfte zum Gesamtumsatz bei. Der Umsatz wuchs zuletzt dank steigender Nachfrage zweistellig, genauso wie bei Schott, dem Spezialglashersteller aus Mainz, der auch gern auf seine Systemrelevanz hinweist.

Mit ihren Appellen haben sich die Unternehmen in der Politik denn auch teils schon Gehör verschafft. „Der Industriezweig wäre zerstört“, konstatierte jüngst etwa der neue Chef der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, angesichts des möglichen Gaslieferstopps aus Russland. Selbst der Grünen-Politiker Anton Hofreiter, der sich seinerseits wiederholt für ein Energieembargo ausgesprochen hat, räumte bei einem TV-Auftritt Anfang April ein, wie katastrophal die Folgen für die hiesigen Glasproduzenten wären. In der aktuell geltenden Frühwarnstufe für die Gasversorgung haben einige Unternehmen der Branche dennoch bereits Briefe von ihren Netzbetreibern erhalten. Darin heißt es, dass sie sich auf eine Abschaltung einstellen sollen, wie das „Manager Magazin“ Anfang April berichtete.

Mit Blick auf das finanzielle Problem der Branche hatte zudem der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) Mitte April schnelle Staatshilfen vom Bund gefordert. „Mit Energiekostensteigerungen von 500 % und mehr gegenüber dem Vorjahr kann auch der gesündeste Glasbetrieb nicht mehr wirtschaften“, sagte der Freie-Wähler-Politiker bei einem Besuch von Heinz-Glas.

Bisher erschienen:

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