Materialengpässe

Halbleiter bleiben auch im neuen Jahr knapp

Branchenkenner rechnen frühestens 2023 mit einer Entspannung. Denn der Ausbau der Produktionskapazitäten dauert. Bundeswirtschaftsminister Habeck erkennt einen Zeitdruck.

Halbleiter bleiben auch im neuen Jahr knapp

Von Joachim Herr, München

Die neue Bundesregierung ist alarmiert. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) treibt die Zukunft der Halbleiterindustrie in Deutschland um. Zur Förderung der Branche hierzulande wurden jetzt 32 Projekte mit einem Investitionsvolumen von mehr als 10 Mrd. Euro ausgewählt, wie das Ministerium in der Woche vor Weihnachten bekannt gab. Wie viel der Staat beisteuert, wurde noch nicht mitgeteilt. Über die Förderung entscheidet zunächst die Europäische Kommission.

Habeck geht es darum, die Abhängigkeit von der Chipfertigung in Asien zu verringern. Nach Angaben des ZVEI, des deutschen Verbands der Elektro- und Elektronikindustrie, liegt der Weltmarktanteil Europas an der Produktion hochmoderner Halbleiter bei gerade mal noch 9% (siehe Grafik). Ende der 1980er-Jahre waren es 40%, im Jahr 2000 immerhin noch mehr als 20%. „Die weltweiten Lieferengpässe zeigen: Deutschland und Europa haben keine Zeit zu verlieren“, warnt Habeck. Die Knappheit an Halbleitern trifft nach einer Analyse von Goldman Sachs 169 Branchen, hierzulande vor allem die Autoindustrie. Die Unternehmensberatung EY spricht wie andere sogar von einer Chipkrise, die die Autoindustrie in den Griff genommen habe. Diese Krise werde den Markt vorläufig auch nicht wieder loslassen, befürchtet EY-Partner Peter Fuß: „2021 werden in der EU noch weniger Neuwagen verkauft werden als im ohnehin schon sehr schwachen Vorjahr.“

Mindestens bis Mitte 2022 werde der Mangel an Halbleitern und an­deren Vorprodukten zu erheblichen Produktionsausfällen führen. „Danach dürfte sich die Situation langsam entspannen, aber wir werden voraussichtlich auch 2023 noch Auswirkungen dieser Krise sehen“, sagt Fuß.

Zuletzt haben sich die Engpässe und Schwierigkeiten generell in der Beschaffung von Vorprodukten und Rohstoffen verschärft. Im Dezember klagten darüber 82% der deutschen Industrieunternehmen, im November waren es 74%.

„Auch 2022 wird es eng“

Es ist die große Frage: Wie lange stockt der Nachschub noch? Der Vorstand von Daimler rechnete zuletzt damit, dass sich die Versorgung mit Halbleitern 2022 und schon im Schlussquartal 2021 verbessert. „Der strukturelle Mangel dürfte aber auch 2022 noch bestehen“, sagte Finanzvorstand Harald Wilhelm Ende Oktober. Jedenfalls hat Mercedes-Benz aus diesem Grund in den Werken in Bremen und Kecskemét in Ungarn den Beginn der Weihnachtspause vorgezogen.

Oliver Blume, der Vorstandsvorsitzende von Porsche, stellt sich auf eine noch ziemlich lange Dauer des Engpasses ein: „Wer glaubt, dass sich die Halbleiterkrise im nächsten Jahr beruhigen wird, unterliegt ei­nem Trugschluss“, sagte er vor zwei Monaten im Interview der Börsen-Zeitung.

Wenig optimistisch klang Anfang Dezember zudem Stephan zur Verth, der Vorsitzende der ZVEI-Fachgruppe Halbleiter: „Auf jeden Fall wird es auch 2022 eng.“ Nach seiner Schätzung wird erst im Laufe des Jahres 2023 der Mangel abnehmen. Als Warnsignal lässt sich auch die Einschätzung von Christoph von Plotho deuten, dem Vorstandsvorsitzenden von Siltronic: Das Waferangebot sei schon knapp und werde in den nächsten Jahren voraussichtlich noch knapper werden. Wafer sind dünne Siliziumscheiben, die als Ausgangsmaterial für Halbleiter dienen. Siltronic ist einer der größten Produzenten und steht vor der Übernahme durch den taiwanischen Konkurrenten Global Wafers.

Wenn es schon zu wenig Vorprodukte gibt, können freilich auch nicht genügend Chips produziert werden. Zwar baut Siltronic in Singapur für 2 Mrd. Euro eine zusätzliche Fabrik. Doch der Produktionsstart der ersten Wafer ist dort wegen der üblichen Dauer bis zur Fertigstellung erst fürs Jahr 2024 zu erwarten. Um die weiter steigende Nachfrage im Markt zu befriedigen, wären drei neue Fabriken notwendig, sagte von Plotho vor wenigen Wochen.

Die Suche nach dem Fehler

Auch der Ausbau der Chipfertigung braucht Zeit: Neue Produktionsanlagen sind aktuell nur nach längerer Wartezeit zu bekommen, da auch für diese Maschinen Halbleiter gebraucht werden. Und bis eine neue Fabrik errichtet und produktionsbereit ist, dauert es einige Jahre.

Der Vorstand von Siltronic rechnet damit, dass die Nachfrage nach Wafer mit einem Durchmesser von 300 Millimetern, dem größten und am meisten verwendeten Format, in den nächsten Jahren im Durchschnitt um jeweils 6% wachsen wird. Das ist wohl eher vorsichtig kalkuliert, denn der Bedarf an Chips wächst stark, nicht nur, weil ihr Anteil in Autos zunimmt.

Wie es zu dem Mangel in der Branche gekommen ist, ist umstritten. Die Autohersteller und Zulieferer weisen Fehler von sich. Nach ihrer Darstellung haben sie rechtzeitig bestellt. Einige Ursachen ließen sich zweifellos nicht vermeiden:  Wegen der Winterstürme in den USA, Erdbeben, eines Brands in einer Fabrik und hoher Covid-19-Infektionszahlen in Südostasien stand die Fertigung in einigen Chipwerken zeitweise still.

Netzwerk für Daten

Als entscheidenden Grund für den Engpass nennen Elektronik-Fachleute und Berater allerdings die Stornierung der Autoindustrie von Chip-Aufträgen im Jahr 2020, nachdem die Nachfrage nach Fahrzeugen kräftig gefallen war. Eine rasche Wende ist nicht möglich. Zum einen, weil die Kapazitäten für stornierte Aufträge für andere Kunden genutzt wurden, etwa für Hersteller von Unterhaltungselektronik. Zum anderen beträgt die Vorlaufzeit für die Produktion von Chips mindestens zehn bis zwölf Wochen. Die Halbleiterbranche plant Monate im Voraus, die Autoindustrie auf kürzere Sicht.

Nun wollen beide Seiten ihre Lehren aus der Unterversorgung ziehen. Die Automobilindustrie zum Beispiel will in dem Netzwerk Catena-X unter anderem Daten über den Bedarf von Halbleitern und anderen Elektronikbauteilen austauschen. So soll sich die gesamte Nachfrage besser kalkulieren lassen. Mitglieder von Catena-X sind außer den deutschen Autoherstellern und Zulieferern Unternehmen wie SAP und Siemens.

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