Kerstin Andreae

„Wir müssen die Notfallstufe konkret vorbereiten“

Nach der Ausrufung der Frühwarnstufe im Notfallplan Gas muss die Bundesregierung jetzt die Notfallstufe vorbereiten, fordert BDEW-Chefin Kerstin Andreae. Auch zum beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien hat sie dringende Anliegen an die Ampel-Koalition.

„Wir müssen die Notfallstufe konkret vorbereiten“

Stefan Paravicini.

Frau Andreae, das Wirtschaftsministerium hat die Frühwarnstufe im Notfallplan Gas ausgerufen. Erfordert die Lage bereits weiter reichende Schritte?

Es ist ganz wichtig, einen Satz voranzustellen: Wir haben aktuell keinen Versorgungsengpass. Die Ausrufung der Frühwarnstufe durch das Bundeswirtschaftsministerium ist aber jetzt der richtige Schritt, um Vorsorge zu treffen. Im Fall einer Lieferunterbrechung müssen die Gasversorger einen klaren Fahrplan zu ihren Rechten und Pflichten haben. Das heißt, wir müssen jetzt in der Frühwarnstufe schon die Notfallstufe konkret vorbereiten, denn im Fall einer Lieferunterbrechung muss es schnell gehen. Die Gasversorger werden weiterhin ihre Verantwortung wahrnehmen, die Gasversorgung zu sichern, und entsprechende Maßnahmen in Abstimmung mit der Bundesnetzagentur vorbereiten.

Was passiert, wenn die Gasversorgung eingeschränkt sein sollte?

Wir haben einen Teil geschützter Kunden wie Haushalte, Krankenhäuser oder Feuerwehren und einen Teil nicht geschützter Kunden. Bei Letzteren könnte es bei einer Gasmangellage als Erstes zu einer eventuellen Reduzierung oder zum Aussetzen von Gaslieferungen kommen. Dafür müssen die Netzbetreiber einen rechtssicheren Rahmen ha­ben. Mit Ausrufen der Frühwarnstufe kann die Bundesregierung die Bundesnetzagentur entsprechend anweisen.

Das Wirtschaftsministerium hat gerade einen Bericht zur Energiesicherheit vorgestellt, in dem von einer Reduktion der Gasimporte aus Russland auf 30 % des Gasverbrauchs bis Ende 2022 die Rede ist. Ist das realistisch?

Erst einmal finde ich es absolut richtig, dass das Wirtschaftsministerium sagt, wir müssen unabhängiger von russischen Importen werden – und zwar schnell. In der Diskussion über ein Gasembargo hat die Bundesregierung auf die schwerwiegenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen verwiesen. Diese Einschätzung teile ich. Das Vorhaben der Bundesregierung, sich schrittweise unabhängig von russischen Gasimporten zu machen, ist daher ein guter Weg, um auf der eine Seite ein Signal in Richtung Russland zu senden und gleichzeitig die Versorgungssicherheit im eigenen Land aufrechtzuerhalten.

Geht das in diesem Tempo?

Das kann gehen. Wir haben als BDEW analysiert, dass wir innerhalb eines Jahres etwa 50% des russischen Erdgases einsparen oder ersetzen können. Ersetzen heißt im Wesentlichen ein Ersatz durch Steinkohle, was natürlich schlechtere Zahlen in der CO2-Bilanz bedeutet. Ein anderer Teil muss durch andere Lieferquellen und Lieferländer ersetzt werden. Das ist alles sehr ambitioniert, die Herangehensweise ist aber richtig: Wir müssen schneller unabhängiger von russischem Erdgas werden.

Der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien ist dafür die Voraussetzung. Schafft die Bundesregierung mit den bis Ostern geplanten Gesetzesvorhaben die Voraussetzungen dafür?

Das Osterpaket stellt die Zielanpassungen im Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) in den Vordergrund. Es fehlen aber noch zentrale Bausteine im Planungs- und Genehmigungsrecht. Die waren eigentlich erst für das Sommerpaket gedacht. Aus unserer Sicht müssen sie zeitlich vorgezogen werden. Der Ausbau der Erneuerbaren ist der entscheidende Hebel, um unabhängiger von russischen Importen zu werden. Und wir brauchen die Erneuerbaren auch, um den Wasserstoffhochlauf hinzubekommen. Das heißt, das Ausbautempo der erneuerbaren Energien muss enorm beschleunigt werden. Dafür müssen wir dringend an zentralen Stellschrauben drehen, vor allem beim Thema Planung und Genehmigung.

Würde da etwas mehr Digitalisierung in der Bürokratie helfen?

Auch im Behördenmanagement muss sich noch einiges ändern. Wir brauchen eine schnellere Digitalisierung, elektronische Akten, die Nutzung von digitalen Verwaltungsschritten und das Personal, um die Genehmigungen schneller voranzubringen.

Gelingt so der Ausbau im „Tesla-Tempo“, wie er Wirtschaftsminister Robert Habeck vorschwebt?

Das Beispiel der Tesla-Fabrik in Grünheide ist etwas anders gelagert, da Tesla keine öffentlichen Mittel in Anspruch genommen hat. Man hat bei Tesla aber gesehen, dass es mit einer deutlich höheren Geschwindigkeit gehen kann, wenn alle dahinterstehen und koordiniert an einem Strang ziehen.

Was muss nach Ansicht des BDEW konkret mit in das Osterpaket, um bei Planung und Genehmigungen Fahrt aufnehmen zu können?

Wir plädieren für ein zeitliches Vorziehen der notwendigen Anpassungen im Planungs- und Genehmigungsrecht, das heißt Regelungsvorschläge im Baugesetzbuch, im Bundesimmissionsschutzgesetz und im Bundesnaturschutzgesetz. Daneben geht es auch um den Netzausbau auf allen Spannungsebenen, der immer mitgedacht werden muss. Es nutzt ja nichts, wenn man den Strom erzeugt, aber nicht dorthin bringt, wo er notwendig ist.

Haben Sie denn Signale aus der Ampel-Koalition, ob es bis Ostern mit entsprechenden Anpassungen klappen wird?

Wir sind uns mit dem Ministerium sehr einig, dass wir bei Planung und Genehmigung deutlich beschleunigen müssen. Es liegt ja auf der Hand, dass man hier vorankommen muss, wenn man insgesamt das Tempo erhöhen will. Die Entwürfe liegen vor und wir haben dazu Stellung genommen. Die nächsten Tage werden wir nutzen, um noch einmal in die Diskussion zu gehen. Das ist aber keine Frage von unterschiedlichen Meinungen, sondern eine Frage der Kapazitäten.

Den erneuerbaren Energien wird in der Novelle des EEG ein überragendes öffentliches Interesse zugebilligt. Ist das so verankert, dass es bei der Güterabwägung auch wirklich greifen kann?

Es ist aus unserer Sicht sehr wichtig, dass das überragende Interesse in der Abwägung mit hineinkommt, weil die Behörden manchmal diese Entscheidungshilfe brauchen. Aus unserer Sicht wäre es aber wünschenswert, dass diese Präferenz sich auch in den entsprechenden Fachgesetzen widerspiegelt, damit die Umsetzung tatsächlich greift und Unsicherheiten vermieden werden.

Mit Blick auf das Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz (KWKG) rät der BDEW, die Reform in den Sommer zu verschieben. Ist der Nachbesserungsbedarf so groß?

Die Vorschläge für das KWKG bleiben weit hinter dem Notwendigen zurück. Wir brauchen mehr steuerbare Leistung. Die Kraft-Wärme-Kopplung ist eine etablierte Technologie, die auch mit Wasserstoff funktionieren kann. Das heißt aber, dass die H2-Readiness mit realistischen Terminsetzungen und Übergangsregeln im Gesetz aufgenommen werden muss. Darüber hinaus muss eine entsprechende Anpassung der Förderbedingungen erfolgen. Hierzu gehört auch, dass die Nutzung von grünem Biomethan weiterhin förderfähig sein sollte. Daraus folgt aus unserer Sicht, dass wir den Monitoring-Bericht des Wirtschaftsministeriums für das KWKG abwarten sollten, um die richtigen politischen und energiewirtschaftlichen Schlussfolgerungen für die Novelle des KWKG ziehen zu können und diese in einer KWKG-Novelle im Sommerpaket umzusetzen. Das ist zentral für das Zusammenspiel der Erneuerbaren auf der einen Seite und der gesicherten Leistung auf der anderen Seite.

Auch die Nationale Wasserstoffstrategie soll überarbeitet werden. Was fordert der BDEW?

Wir haben bislang eine sehr klare Orientierung der Anwendungsfelder für Wasserstoff auf die Grundstoffindustrie. Wir plädieren dafür, breitere Anwendungsfelder auch im Bereich des Wärmemarktes einzubeziehen, etwa die Beimischung von Wasserstoff ins Gasnetz. Denn wir werden es im Wärmemarkt mit sehr vielen Optionen zu tun haben. Da geht es um Elektrifizierung und Wärmepumpen, da haben wir den Bereich der Fern- und Nahwärme und wir werden eben auch auf die Frage der Nutzung von Gasheizungen kommen. Um hier klimaneutral zu werden, brauchen wir Beimischungsoptionen von klimaneutralen Gasen wie Biomethan und perspektivisch auch die Nutzung von Wasserstoff.

Bislang reicht der Wasserstoff allerdings nicht einmal für die Grundstoffindustrien, oder?

Das hängt natürlich davon ab, wie viel Wasserstoff zur Verfügung steht, deswegen ist der Einsatz im Wärmesektor auch keine Option für die kurze Frist. Aber wir wollen, dass diese Option offenbleibt, weil die Wärmeversorgung sehr viele Herausforderungen im Gebäudebestand hat. Ein Baustein hierfür ist, dass ein Unternehmen im Erdgasbereich perspektivisch auch ein Unternehmen in der Wasserstoffwirtschaft werden kann, die Netze dafür nutzt und die Investitionen dafür tätigt. Dazu muss man bei der Entflechtung auf europäischer Ebene aufpassen, dass man nicht zu stark eingreift und diese Transformation zulässt.

Der Ausbau der Erneuerbaren erfordert auch Akzeptanz in der Bevölkerung. Wird das im Osterpaket berücksichtigt?

Die kommunale Beteiligung hat sich bereits bei Windprojekten als positiv herausgestellt und ist deswegen auch für Fotovoltaik-Freiflächen geplant. Die Bürgerbeteiligung ist ebenfalls ein relevanter Aspekt. Aber es muss klar sein, dass irgendwann entschieden werden muss. Es ist nicht zuträglich, wenn über den permanenten Klageweg ein Projekt nicht zur Realisierung kommt.

Wie schafft man da Abhilfe?

Wir brauchen eine kluge Bürgerbeteiligung, die demokratischen Notwendigkeiten entspricht. Das gilt auch für die kommunale Beteiligung, wo die Mittel der Kommune und nicht dem Einzelnen zufließen. Aber wir brauchen auch ein Grundverständnis in der Bevölkerung, dass wir die Erneuerbaren voranbringen müssen, wenn wir unabhängiger werden wollen von fossilen Energieträgern und akut von russischen Energieträgern. Dann nützen uns langwierige Diskussionen über Abstandsregeln und Fotovoltaik-Deckel nichts. Mir ist aber auch wichtig, dass die Energiewende auch Chancen bereithält. Wir reden von enormen Investitionen und großer Wertschöpfung vor Ort. Wir reden von einer Energiebranche, die sich verändert, von Fachkräften und Steuereinnahmen. Wir müssen das Thema auch unter Konjunktur- und Wachstumsfragen anschauen und verstehen, welche positive Wirkung wir hier erzielen können.

Am 24. Februar ist Deutschland auch energiepolitisch in einer neuen Welt aufgewacht. Ist ein Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2030 noch realistisch?

Diese Frage lässt sich heute nicht beantworten, der Kohleausstieg als solcher ist für unsere Branche aber gesetzt. Wir müssen jetzt handeln, um unabhängiger von russischen Importen zu werden. Was daraus folgt und wie der Kohleausstieg organisiert werden kann, muss man dann zu diesem Zeitpunkt diskutieren. Fest steht, dass wir dabei den CO2-Emissionen und der Klimafrage die herausragende Bedeutung einräumen müssen, die sie tatsächlich haben. Es kommen im Moment viele dramatische Ereignisse zusammen und der Krieg in der Ukraine ist mit Sicherheit das schlimmste. Die Klimapolitik deshalb nach hinten zu schieben und die Energiewende zu verzögern, ist aber ein falscher Ansatz.

Wie sieht es mit einer Verlängerung der Laufzeiten für Atommeiler aus?

Die Betreiber selber sind ja sehr skeptisch bis ablehnend, weil sie sagen, dass sie regulatorisch und technisch alles vorbereitet haben, um die Kernenergie abzuschalten. Es handelt sich um eine Hochrisikotechnologie, da legt man nicht einfach einen Schalter um. Die Bundesregierung hat sich aus meiner Sicht ebenfalls klar positioniert. Deswegen sollten wir darauf nicht den Schwerpunkt legen. Unser Blick muss sich nach vorne zu den Erneuerbaren richten.

Wirtschaftsminister Robert Habeck ist zuletzt auch nach Katar gereist, um Flüssiggas einzukaufen. Nicht nur Grüne rümpften da die Nase. Sehen so die Energiepartner der Zukunft aus?

Es muss auf eine Diversifizierung der Lieferländer hinauslaufen, denn je breiter man aufgestellt ist, desto unabhängiger ist man. Die russischen Erdgasimporte lagen im vergangenen Jahr bei 55 % des Gasverbrauchs. Daraus sollten wir unsere Lehren ziehen: Abhängigkeiten von einzelnen Lieferanten reduzieren und den Turbo beim Ausbau der Erneuerbaren einlegen. Klar ist auch, dass Alternativen mit Blick auf manche Lieferländer nicht unproblematisch sind. Minister Habeck hat die Menschenrechtslage ja auch angesprochen. Das ist alles nicht einfach, aber wir müssen unabhängiger von einzelnen Lieferländern werden.

Sind Sie überrascht, wie pragmatisch sich die Grünen und vor allem der grüne Vizekanzler in dieser Situation zurechtfinden?

Ich bewerte keine Parteien, aber die Strategie der Bundesregierung ist für mich schlüssig: Wir werden unabhängiger und wir schauen, dass wir so schnell wie möglich die Erneuerbaren hochfahren. Die Bundesregierung berücksichtigt dabei auch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen, die ein Embargo hätte. Die Rückmeldungen aus der Branche sind sehr positiv. Es wird wahrgenommen, dass der Wirtschaftsminister sich kümmert und dabei einen klaren Kompass mit einer klaren Strategie hat. Robert Habeck hat sich als guter Zuhörer gezeigt, der sich in vielen Runden berät, Informationen einholt und dann auch den Kontakt hält. Das wird sehr positiv wahrgenommen.

Der Leiter des Umweltbundesamtes sprach zuletzt die Hoffnung aus, dass der Ukraine-Krieg einen Apollo-Moment für die Erneuerbaren nach sich ziehen könnte. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ich tue mir sehr schwer, aus diesem schrecklichen Krieg Chancen abzuleiten. Ich glaube, wir können uns nicht ansatzweise vorstellen, was die Menschen in der Ukraine erleiden. Ich sehe aber, dass es auf Seiten der Politik ein enormes Interesse gibt, jetzt wirklich voranzukommen und den Knoten bei der Energiewende zu durchschlagen. Das Gute ist, dass wir eine Branche haben, die komplett bereit dafür ist. Die Projekte sind da, das Know-how ist da, das Interesse ist da, das Geld ist da. Man muss sie nur loslaufen lassen, dann können wir bei den Erneuerbaren wirklich viel realisieren. Entscheidend sind die Gesetzgebung, der Rahmen, die Regulierung und schlanke Verfahren. Das Potenzial und die Möglichkeiten sind da. Und wenn dieses Potenzial jetzt endlich gehoben wird, dann kommen wir einen großen Schritt weiter, was die eigene Energieversorgung angeht. Dass das bitter notwendig ist, wissen wir schon seit geraumer Zeit, denn wir sind seit langem mit der Herausforderung Klimawandel konfrontiert.

Das Interview führte