„Der Kosmetikmarkt ist attraktiver als seine Reputation“
Im Interview: Dietmar Siemssen
„Der Kosmetikmarkt ist attraktiver als seine Reputation“
Gerresheimer-Chef verteidigt aktuelle Aufstellung – Synergiepotenzial erst durch Akquisition entstanden – Weiterentwicklung zum Systemanbieter für Pharma
Gerresheimer hat kürzlich eine neue Schmelzwanne zur Glasherstellung am Standort Lohr in Betrieb genommen. Mit über 100 Mill. Euro handelt es sich die größte Einzelinvestition in Deutschland. Zur Standortwahl und etwaigen Aufspaltungsplänen äußert sich Vorstandschef Dietmar Siemssen im Interview.
Herr Siemssen, in der Glasfabrik in Lohr haben Sie jetzt eine neue Hybridschmelzwanne in Betrieb genommen. Mit der Projektplanung haben Sie 2020 begonnen. Hätten Sie die Investitionsentscheidung auch nach dem Energiepreisschock im Zuge des Ukrainekriegs in dieser Form getroffen?
Ja. Wenn man mit der Planung beginnt, weiß man, dass man erst in drei, vier Jahren investiert, und zwar für die nächsten zehn bis zwölf Jahre. Da überlegt man schon, wie die Welt in zehn oder 15 Jahren aussieht – umso mehr bei einem energieintensiven Produkt wie Glas.
Es war aber doch nicht vorhersehbar, dass die Energiepreise in Deutschland derart explodieren.
Das ist richtig. Grundsätzlich war aber auch damals schon klar, dass das Niveau der Energiekosten in Deutschland und damit die Kosten der Produktion höher liegen als in anderen Ländern. Hinzu kommt die CO2-Thematik. Als wir unsere Unternehmensstrategie 2019 aufstellten, war klar, dass Nachhaltigkeit eine große Rolle spielt. Bei einem Glashersteller liegt der größte Hebel in dieser Hinsicht in der Technologie. Mit der neuen Schmelzwanne verfügen wir über die neueste Technologie. Es ist die weltweit größte Anlage dieser Art.
Ich würde die Entscheidung heute genauso treffen.
Dietmar Siemssen
Warum fiel die Entscheidung auf Lohr?
Um die Zukunft des Betriebs zu sichern, war es klar, dass wir jetzt investieren müssen. Wir produzieren in der Region für die Region und Deutschland ist ein sehr wichtiger Markt für uns. Wenn ich die Entscheidung heute noch einmal treffen müsste, würde ich sie genauso treffen.
Sie haben in den vergangenen beiden Jahren nicht nur viel investiert, sondern mit Bormioli Pharma auch einen größeren Wettbewerber übernommen. Jetzt wollen Sie ein „Moulded Glass Powerhouse“ bauen. Was hat man sich darunter vorzustellen?
Durch die Übernahme ist Gerresheimer im Bereich Moulded Glass zum führenden Anbieter für kleinvolumige Glasbehälter geworden. Wir haben ein sehr breites Produktportfolio und sind global vertreten. Mit einem kombinierten Umsatz im Bereich Moulded Glass von rund 750 Mill. Euro sind wir einer der größten Anbieter im Markt. Als Hersteller von Glas für die Pharmaindustrie mit Reinraumtechnik sind wir prädestiniert für hochwertigste Nahrungsmittel- und Getränkegläser wie beispielsweise für Babynahrung. Dort sind die Anforderungen jenen aus der Pharmaindustrie ähnlich.
Momentan leiden Sie jedoch unter der Schwäche der Kosmetikbranche.
Bedingt durch die geopolitischen Spannungen sehen wir eine temporäre Konsumschwäche in der Kosmetikindustrie. Dazu kommt, dass der Wannenumbau natürlich die Produktverfügbarkeit im Bereich Moulded Glass in anderen Marktsegmenten beeinflusst hat.
Zur Person
Dietmar Siemssen, Vorstandschef von Gerresheimer, ist derzeit nicht um seinen Job zu beneiden. Einerseits sitzen ihm aktivistische Investoren im Nacken, weil sich das Wachstum nicht wie prognostiziert einstellt. Andererseits haben Finanzinvestoren Übernahmeinteresse angemeldet. Siemssen (Jahrgang 1963), der seit Ende 2018 an der Gerresheimer-Spitze steht, gibt sich im Gespräch jedoch betont gelassen. Den Umgang mit Finanzinvestoren kennt er aus seiner vorherigen Tätigkeit. Als Chef von Stabilus hatte er den Weltmarktführer von Gasfedern aus dem Portfolio des Finanzinvestors Triton 2014 an die Börse geführt.
Wie reagieren Sie darauf?
Wir entwickeln neue Produktsegmente im hochwertigen Food & Beverage Bereich. Diese neuen Produkte werden nach dem Anlauf der neuen Wanne das Wachstum antreiben.
Wird die Schwäche in der Kosmetikindustrie länger dauern?
Wir erwarten, dass sich der Kosmetikmarkt gegen Ende des Jahres wieder erholen wird. Investoren werfen uns immer vor, dass wir kein reiner Pharma-Player sind. Aber der Kosmetikmarkt ist deutlich attraktiver als seine Reputation. Es stimmt: Dieser Markt ist deutlich volatiler und alle vier, fünf Jahre gibt es ein Tief von sechs bis zwölf Monaten. Doch in der Zeit dazwischen ist der Markt hochattraktiv und wächst beinahe zweistellig.
Sie wollen das Powerhouse Moulded Glass getrennt aufstellen. Ist das der erste Schritt zur Aufspaltung des Konzerns?
Der Bereich Moulded Glass stellt inzwischen ein sehr starkes Stand-alone-Geschäft dar. Ob wir das Geschäft ausgliedern, überprüfen wir in unserem Strategic Review und entscheiden im Laufe des Jahres. Kämen wir zu dem Schluss, dass das Geschäft nicht mehr richtig passt, müssten wir entscheiden, wann ein richtiger Zeitpunkt für eine Trennung wäre. Das schauen wir uns im Verlauf des zweiten Halbjahres an.

Entscheiden Sie dann auch über den Weg der Trennung, also Verkauf, Spin-off oder Börsengang?
Den Strategic Review, ob wir das Geschäft ausgliedern, werden wir im Laufe des Jahres durchführen.
Gibt es zwischen den Geschäftseinheiten Moulded Glass und Primary Packaging Plastics keine Synergien?
Mit der Übernahme von Bormioli Pharma haben wir ein großes Portfolio an Verschlüssen gewonnen. Das bietet uns vielfältige Kombinationsmöglichkeiten aus Flasche und Verschluss. Das wiederum stellt ein System dar und bietet dem Kunden Mehrwert. Das gilt für Kunststoffbehälter und -deckel, aber natürlich auch für Glasflasche und Kunststoffdeckel. Diese Synergiepotenziale haben wir erst mit Bormioli Pharma bekommen und die werden wir natürlich heben.
Als Systemanbieter braucht man eine gewisse Schulterbreite.
Dietmar Siemssen
War die Business Unit bislang zu klein für eine separate Aufstellung?
Als Systemanbieter braucht man eine gewisse Größe, eine globale Aufstellung und Portfoliobreite. In der Vergangenheit hat die Pharmaindustrie mit eigenen Entwicklern Systeme aus Behälter und Verschluss konzipiert. Jetzt gliedern unsere Pharmakunden die Systemintegration stufenweise aus. Das eröffnet uns die Möglichkeit, unsere Wertschöpfungskette zu verlängern. Um sich langfristig als Systemanbieter zu positionieren, braucht man jedoch ein breites Produkt- und Kompetenzprofil. Die Systementwicklung für ein neues Pharmaprodukt dauert sieben bis zehn Jahre. Wenn ein Pharmakonzern diese Verantwortung aus der Hand gibt, muss er wissen, dass der Partner in zehn Jahren auch noch da ist. Dafür braucht man eine gewisse Schulterbreite.
Ihre Investoren scheinen diese Equity Story nicht zu kaufen, sonst stünde die Aktie nicht da, wo sie heute steht. Zugleich haben Finanzinvestoren Übernahmeinteresse angemeldet. Wie ist der Gesprächsstand?
Zu den Gesprächen mit Finanzinvestoren kann ich nicht mehr sagen als ad hoc veröffentlicht wurde. Es gibt kein wesentliches Update. Die Gespräche sind sehr ergebnisoffen.
Jetzt müssen wir Vertrauen zurückgewinnen.
Dietmar Siemssen
Der Aktienkurs spricht eine andere Sprache. Nachdem Spekulationen die Runde gemacht hatten, KKR sei aus dem Bieterkonsortium ausgestiegen, ist der Kurs bis auf 50 Euro gefallen. Die Aktionäre glauben demnach nicht mehr, dass es absehbar eine Offerte gibt.
Ich würde die Kursentwicklung anders beschreiben. Mit der Strategie 2019/20 haben wir die Firma auf Wachstumskurs gebracht. Mit dem einsetzenden Lagerabbau bei unseren Kunden hat sich das Wachstum verlangsamt. Das hat uns 2024 viel Wachstum gekostet. Neben der Gewinnwarnung für 2024 mussten wir auch die Prognose für 2025 reduzieren. Das hat die Aktie unter Druck gesetzt. Das wiederum hat Übernahmeinteressenten auf den Plan gerufen.
Wie geht es jetzt weiter?
Jetzt müssen wir Vertrauen zurückzugewinnen. 2025 werden wir noch nicht zweistellig wachsen. In den Folgejahren werden wir aber die prognostizierten 8 bis 10% Wachstum liefern. Dann können wir auch zeigen, welches Potenzial in der Bormioli-Übernahme steckt. Ich bin überzeugt, dass der Markt das honorieren wird.
Das Interview führte Annette Becker.