Wolfgang Merkle

„Stationäre Einzelhändler sind im Vorteil“

Zugangsbeschränkungen zu Geschäften oder angeordnete Schließungen gefährden die Existenz vieler stationärer Einzelhändler. Doch nach Ansicht des Handels- und Marketingexperten Wolfgang Merkle können die Vorteile gegenüber dem boomenden Online-Handel stärker herausgearbeitet werden.

„Stationäre Einzelhändler sind im Vorteil“

Von Martin Dunzendorfer,

Frankfurt

„Die stationären Einzelhändler sind den Online-Händlern gegenüber eigentlich klar im Vorteil.“ Eine in Pandemie-Zeiten mit staatlich vorgeschriebenen 2G-Zugangskontrollen gewagte These, die Wolfgang Merkle im Gespräch mit der Börsen-Zeitung aufstellt. Der Professor für Marketing Management an der University of Europe for Applied Sciences in Hamburg erklärt, warum das seiner Ansicht nach so ist: „Wenn der stationäre Einzelhandel bei der heutigen Erwartungshaltung der Konsumenten einen erfolgreichen Unterschied zu seinen digitalen Herausforderern machen möchte, muss er einfach nur das Beste aus beiden Welten vereinen.“ Was das sei? „Mehr Erlebnis pro Quadratmeter schaffen und die Prozessqualität und Kundenbindung konsequent optimieren.“

Was so einfach klingt, scheitert aber oft schon am Kleingeld, das nötig ist, um die von Merkle geforderten „Erlebnisse“ zu finanzieren. Doch, so stellt der Marketing- und Handelsexperte klar, die Einstellung „Das haben wir doch immer schon so gemacht“ sei selbst vor dem Hintergrund eines Traditionsunternehmens ein absolutes No-Go und gefährde die Existenz. Dass sich dennoch viele Unternehmen gegen den Wandel stemmen, ist Merkle unbegreiflich. „Manche Händler wollen wahrscheinlich sterben“, erklärt der ehemalige Chief Marketing Officer von Tchibo (2007 bis 2015) und Marketing-Direktor bei Galeria Kaufhof (2002 bis 2007), der zuvor für Zara, Massimo Dutti und Otto arbeitete.

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, die die Krise des ohnehin schon stark gebeutelten stationären Einzelhandels verstärken, seien zum „Booster“ für den Online-Handel geworden. Doch Merkle stellt klar: „Die negativen Umsatzentwicklungen des Einzelhandels lassen sich nicht allein auf die Corona-Pandemie und die 2G-Regel zurückführen.“

Nicht wie ein Händler denken

Merkle zählt mehrere Punkte auf, wie der stationäre Einzelhandel sich auch unter 2G-Bedingungen neu er­finden und zu alter Stärke zurückfinden kann. Zunächst sollten Einzelhändler aufhören, wie Einzelhändler zu denken. Er empfiehlt, nach dem Motto „Mehr Erlebnis pro Quadratmeter“ zu handeln, anstatt den „Umsatz pro Quadratmeter“ in den Mittelpunkt zu stellen. Ein spannender Ladenbau und ein attraktives Merchandising würden helfen, im Wettbewerb innovativ und erfolgreich zu sein. Allerdings kostet die Umgestaltung des Verkaufsraums den Händler zunächst viel Geld – und mehr Freude des Kunden am Einkauf bringt dem Händler zunächst keinen Cent mehr in die Kasse, sondern verschlimmert nur seine Finanznöte. Doch Merkle ist sicher, dass die Konsumenten ein angenehmes und interessantes Ambiente durch häufigere und höherwertige Käufe honorieren.

Dies gelte auch für seine zweite Empfehlung: Das Produkt- und Warenangebot sollte für die Kundschaft mit allen Sinnen erlebbar gemacht werden. „Nutzen Sie Ihre Präsenz vor Ort, Ihre persönliche Kundennähe und den direkten Austausch mit Ihrer Kundschaft“, rät er den Händlern, „denn das kann ein Online-Shop nicht bieten.“

Merkle empfiehlt zudem, stärker die Perspektive des Konsumenten einzunehmen und die gesamte Bedien- und Servicequalität „bis ins kleinste Detail“ zu beachten. Hilfreich können z. B. relevante Informationen zur Herstellung und zum Gebrauch einzelner Produkte sein. Habe der Konsument einmal eine positive Erfahrung in einem Geschäft gemacht, trage das enorm zur Kundenbindung bei. Idealerweise komme es dann zur Weiterempfehlung.

Das Problem hierbei – das auch Merkle einräumt – ist, dass in vielen Geschäften die Realität der Kundenberatung und sogar -behandlung anders aussieht. Es kommt vor, dass inkompetente, teils sogar unwillige Verkäufer die Kunden eher verscheuchen, als ihnen zu helfen. Eine solche Erfahrung kann reichen – und der Kunde setzt nie wieder einen Fuß in den betreffenden Laden. Da die Bezahlung im Handel unterdurchschnittlich ist, besteht hier wenig Hoffnung auf Besserung durch Anstellung motivierterer Verkäufer.

Zuschüsse als Ausnahme

Staatliche Zuschüsse für den Einzelhandel betrachtet Merkle auch in der derzeitigen Sondersituation mit Argwohn. Solche finanziellen Stützungsmaßnahmen sollten seiner Ansicht nach in einer Marktwirtschaft die Ausnahme bleiben, zumal die Gefahr bestehe, dass durch einen solchen Geldtransfer die Existenz von Läden verlängert werde, die auch ohne die Belastungen der Pandemie hätten aufgeben müssen. 

Dass in vielen Innenstädten die Zahl und Vielfalt der Geschäfte immer mehr abnehme, liege zum Teil auch an den Entscheidungen der zu­ständigen Kommunalpolitik, meint Merkle. So stehe das Ziel, den privaten Autoverkehr in den Innenstädten durch Maßnahmen wie Umweltplaketten, Stagnation oder Abbau von Parkmöglichkeiten bzw. Einrichtung von Fußgängerzonen oder Fahrradstraßen zu senken, im Kontrast zur – auch von der Politik angestrebten – Wiederbelebung des Einzelhandels in Innenstädten.

Die Realität ist, dass viele Händler von großvolumigen oder schweren Produkten (Kühlschränke, Waschmaschinen, Fernseher usw.) in Innenstädten einen starken Kundenschwund zu beklagen haben, weil die Konsumenten solche Güter nicht über größere Strecken bis zu ihrem Auto tragen wollen oder können. Merkle weist nachdrücklich darauf hin, dass der Händler dem Kunden die Möglichkeit zur zügigen und kostengünstigen Anlieferung an die Haustür bieten muss. Solch ein Service müsse selbstverständlich sein. 

Ein anderer Aspekt sei die Gewerbesteuer. Hier muss die Gemeinde auf den Messbetrag von 3,5% vom Gewerbeertrag einen Hebesatz mindestens in doppelter Höhe (Hebesatzminimum: 200%) festlegen. Im Jahr 2020 lag der durchschnittliche Hebesatz aller Gemeinden in Deutschland für die Gewerbesteuer bei 435%, wobei in der Regel der Hebesatz in Großstädten höher liegt als im Umland. Dieses Hebesatzgefälle erschwert den Einzelhändlern in Innenstädten das Leben.  

Hinzu kommt, dass viele Gemeinden im Umland von größeren Städten oder in strukturschwachen Gebieten pekuniäre Zugeständnisse machen, um so die Neuansiedlung von Gewerben zu forcieren. 

Harte Konsolidierung

Der harte Wettbewerb der stationären Händler in Deutschland untereinander und mit dem Online-Handel wird nach Merkles Meinung dafür sorgen, dass sich in absehbarer Zeit keine ausländischen Spieler auf dem hiesigen Markt blicken lassen werden. In einer der letzten großen Offensiven hatte der US-Handelsriese Walmart von 1997 bis 2006 versucht, mit Warenhäusern auf dem deutschen Markt Fuß zu fassen, war damit aber krachend gescheitert. In diesem Zusammenhang glaubt Merkle auch nicht an eine Konsolidierung innerhalb der deutschen Einzelhandelsbranche durch Fusionen und Übernahmen, wie sie bis vor 20 Jahren noch zu beobachten war. Vielmehr werde es durch freiwillige und erzwungene Geschäftsaufgaben zu einer Marktbereinigung kommen.

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