Materialmangel

Engpässe ohne Ende

Auftragsbücher voll, Warenlager leer: Die Industrie kommt mit der Produktion nicht nach, weil Nachschub ausbleibt. Der Materialmangel hat sich zu einem ernsthaften Konjunkturrisiko ausgewachsen – vor allem in Deutschland.

Engpässe ohne Ende

Hamstern ist das Gebot der Stunde in der Weltwirtschaft. Bis Mitte 2022 werden Unternehmen mit einer akuten Versorgungskrise zu kämpfen haben, schätzen die Fachleute des weltweit führenden Kreditversicherers Euler Hermes – mindestens. In Deutschland dürfte sich die Lage dagegen erst 2023 entspannen, denn hiesige Unternehmen seien beim Hamstern im Hintertreffen. Sie hatten vergleichsweise wenige Vor- und Zwischengüter auf Halde, heißt es bei Euler Hermes, und über den Sommer hätten Konkurrenten aus den Vereinigten Staaten ihnen oftmals auch noch Nachschub aus China weggeschnappt, weil in den USA der Post-Corona-Boom dank üppigerer Staatshilfen und zügigerer Impfkampagne schneller eingesetzt hat.

In kaum einem Bereich zeigen sich die enormen wirtschaftlichen Verwerfungen der Pandemie so deutlich wie bei den Materialengpässen. Knappe Halbleiter, nach denen Autobauer genauso händeringend suchen wie Hersteller von Unterhaltungselektronik, sind das prominenteste, aber beileibe nicht das einzige Problem. Ob Magnesium, Stahl, Aluminium, Kupfer, Silizium oder Holz, ob Verpackungen, Kunststoffe oder chemische Komponenten: Seit Monaten ist die Industrie mit nie dagewesenen Engpässen bei Rohstoffen und Vorprodukten konfrontiert. Ökonomen haben ihre Wachstumserwartungen für Deutschland deshalb reihenweise heruntergeschraubt. Lieferkettenprobleme auf breiter Front sind das neue Normal, der Mangel wird zum Dauerzustand.

„Flaschenhals-Rezession“

Bedeutende Branchen mit weit verzweigten und komplexen Lieferketten wie die Elektroindustrie oder der Auto- und Maschinenbau hat es besonders hart erwischt. Doch im Prinzip ist kein Industriezweig vor der Versorgungskrise gefeit. Das Phänomen ist so ungewöhnlich und zugleich folgenreich, dass Ökonomen die Welt der Konjunktur-Metaphern um einige Exemplare erweitert haben. Von „Flaschenhals-Rezession“ sprechen die Auguren des Münchner Ifo-Instituts. ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski setzt auf den „Ketchupflascheneffekt“: Haben sich die Engpässe erst einmal gelegt, so Brzeskis im Spätsommer geäußerte Hoffnung, werde sich die aufgestaute Nachfrage in der durch den allgegenwärtigen Mangel gehemmten Industrie in einem plötzlichen Produktionsschwall Bahn brechen.

Davon ist bislang nichts zu spüren – zumindest nicht in der deutschen Industrie. Die Unternehmen schieben einen Berg an Aufträgen vor sich her und kommen mit der Produktion nicht hinterher. Ihr Auftragsbestand ist laut Statistischem Bundesamt so hoch wie nie seit Beginn der Aufzeichnungen im Januar 2015. Die Reichweite der Aufträge liegt auf dem Höchststand von 7,5 Monaten. So lange müssten die Firmen theoretisch bei gleichbleibendem Umsatz ohne Neubestellungen produzieren, allein um die vorhandenen Aufträge abzuarbeiten. Kaum ein Volkswirt kann sich daran erinnern, dass die Schere zwischen Auftragseingang und Produktion je dermaßen weit aufging. Ein Warnhinweis für das neue Jahr ist, dass zuletzt auch der Auftragseingang schwächelte: Die Konjunkturlokomotive China bremst ab und der bislang unerwartet robuste Welthandel lässt nach. Ist der Ketchup erst mal aus der Flasche und sind die Bestellungen abgearbeitet, lauern also neue Schwierigkeiten. „Richtig schlimm“ aber, betont ING-Ökonom Brzeski, „wird es erst, wenn Aufträge storniert werden.“ Bislang sieht es freilich eher danach aus, dass Unternehmen mangels Erfolgsaussichten, wegen der langen Lieferzeiten oder der kräftig gestiegenen Preise auf Bestellungen verzichten. Für einen Hoffnungsschimmer mit Blick auf die Liefersituation sorgte immerhin die jüngste Einkaufsmanagerumfrage von IHS Markit, wenngleich der Anteil an Unternehmen, die über steigende Vorlaufzeiten berichten, nach wie vor weit jenseits historischer Durchschnittswerte liegt.

Die Lage ist vertrackt. Teilweise verhinderten scheinbare „Nebensächlichkeiten“, die als selbstverständlich galten, den Produktionsablauf, sagt Alexandra Schadow, Analystin der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW): „Es fehlt an Holz für Paletten, an Plastikfolien für Verpackungen oder an Eimern für die Farbe.“ Der Materialmangel hält sich so hartnäckig, dass Top-Notenbanker bis hinauf in die Chefetagen von Europäischer Zentralbank (EZB) und Federal Reserve inzwischen Fehleinschätzungen eingestehen: Nach Monaten des Beschwichtigens räumten Fed-Chef Jerome Powell und EZB-Präsidentin Christine Lagarde ein, dass sich die Engpässe anders als erwartet verstetigt haben. Damit werden diese auch zu einem immer ernsteren Inflationsrisiko. Viele Unternehmen, das zeigen Umfragen über Branchengrenzen hinweg, scheuen sich nicht, saftige Preiserhöhungen an Kunden und Konsumenten weiterzureichen, um ihre Margen zu sichern.

Der Deutschlandchef von Euler Hermes, Milo Bogaerts, macht das Problem exemplarisch an der ominösen Unterversorgung mit Mikrochips fest: „Deutsche Unternehmen konnten ihre Halbleiterbestände zuletzt etwas aufstocken, aber sie bleiben trotzdem weiterhin Mangelware.“ Auch auf die Belegschaften kommen dadurch schwere Zeiten zu. Daniela Cavallo, Betriebsratschefin bei Volkswagen, überbrachte den Beschäftigten via Betriebsratszeitschrift die schlechte Kunde: „Noch das ganze nächste Jahr wird Mangelversorgung herrschen. Und auch 2023 wird es nicht plötzlich besser werden“, wurde den VW-Angestellten in der Vorweihnachtszeit von ihrer wichtigsten Interessenvertreterin in Aussicht gestellt. „Wir haben das Schlimmste noch vor uns.“

Cavallos Worte stehen stellvertretend für die Sorgen in der für Deutschlands Wohlstand wichtigsten Branche. Grund sind die gravierenden Halbleiterengpässe. Rund 960 Mikrochips sind nach Berechnungen des Zentralverbands Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI) in einem Auto verbaut. Der Aufbau neuer Fertigungskapazitäten für Halbleiter braucht Jahre. Branchenspezialisten haben ihre Produktionsprognosen deshalb um Millionen Autos gestutzt. Das wird überproportional auf der deutschen Wirtschaftsleistung lasten, hängt doch Schätzungen zufolge jeder siebte Arbeitsplatz hierzulande an der Autobranche.

Parallele zu Lehman Brothers

Die mannigfaltigen Lieferkettenprobleme haben weltweit Politiker und Ökonomen aufgeschreckt. In einem 250-seitigen Bericht der US-Regierung, der als Blaupause für den Aufbau resilienter Lieferketten dienen soll, schimmern Vorbehalte gegen das Ausmaß der globalisierten Wirtschaftsbeziehungen durch: „Unser privatwirtschaftlicher und politischer Ansatz für die heimische Produktion, bei dem jahrelang Effizienz und niedrige Kosten Vorrang vor Sicherheit, Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit hatten, hat zu Risiken in der Lieferkette geführt.“ Im Zuge der Pandemie flammt eine Debatte auf, die der Globalisierungsexperte Dani Rodrik Mitte der 1990er Jahre anstieß, als er provokant fragte, ob Amerikas Wirtschaft es zu weit getrieben habe mit der Globalisierung. Rodriks Kollege Daron Acemoglu zieht heute Parallelen zur Weltfinanzkrise. Drohende Dominoeffekte in komplexen Lieferketten seien vergleichbar mit „Finanznetzwerken, in denen der Ausfall einer Bank andere in die Insolvenz oder sogar in den Konkurs treiben kann, wie es 2008 nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers geschah“. Fällt ein Zulieferer aus, kollabiert die gesamte Wertschöpfung.

Manches Unternehmen spielt deshalb mit dem Gedanken, Produktion näher an den Heimatmarkt zurückzuholen. Anhaltender Containermangel und stark gestiegene Frachtraten nähren solche Gedanken. Weit verbreitet ist die Strategie des „Reshoring“ aber nicht: Nach einer Schockstarre zu Beginn der Pandemie haben sich solche Überlegungen einer jährlichen Studie im Auftrag des Logistikkonzerns DHL zufolge gelegt. Nur jedes zehnte Unternehmen erwägt laut einer Ifo-Umfrage, stärker auf heimische Lieferketten zu setzen. 15% der vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) regelmäßig befragten Unternehmen mit Auslandsgeschäft geben zwar an, Teile der Produktion an neue Standorte verlagern zu wollen. Etliche denken dabei aber laut DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier an den jeweiligen Absatzmarkt – nicht zuletzt, weil die Regierungen in China und auch den USA mehr lokale Wertschöpfung verlangen.

Zu ähnlichen Erkenntnissen kommen die Welthandelsexperten der Allianz-Tochter Euler Hermes. „Über Reshoring oder Near­shoring wird aktuell zwar viel geredet, aber konkrete Projekte sehen wir nur wenige“, sagt CEO Bogaerts. Zu erwarten sei eine schrittweise Rückkehr zur „Just in time“-Lagerung. Gemeint ist die Strategie, Vor- und Zwischengüter exakt zu jenem Zeitpunkt zu bestellen, wenn diese gebraucht werden. „‚Just in case‘ und Hamstern“, sagt Bogaerts, „ist auf Dauer schlicht zu teuer.“

Von Stefan Reccius und Alexandra Baude, Frankfurt

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