Klaus-Peter Röhler

„Die Skalierung ist völlig neu“

Der Vorstand über die Vorreiterrolle der Allianz in der Versicherungswirtschaft bei der weltweiten Vereinheitlichung von Produkten

„Die Skalierung ist völlig neu“

Michael Flämig.

Herr Dr. Röhler, die Allianz hat sich Simplicity wins auf die Fahne geschrieben und befindet sich in einer Phase der Transformation. Eine ist offensichtlich: Die Allianz löst ihre Deutschland-AG auf. Braucht der hiesige Markt keine übergreifende Steuerung mehr?

Es handelt sich hierbei um eine Neuordnung der Allianz in Deutschland. Der einheitliche Marktauftritt und die Koordination der deutschen Gesellschaften sind eine Errungenschaft aus dem Jahr 2006, die wir auf keinen Fall aufgeben werden. Deswegen wollen wir eine sogenannte Markteinheit gründen, die sich um den einheitlichen Kundenauftritt kümmert. Das ist ganz wichtig.

Was bringt die Neuordnung dann überhaupt?

Wir wollen die Produktgeber stärken. Sie sollen künftig stärker auf die Qualität der Prozesse etwa im Betrieb oder in der Schadenabwicklung Einfluss nehmen können, ohne die Allianz Deutschland Holding einbinden zu müssen.

Warum?

Das ist Teil unserer Strategie der absoluten Kundennähe, die auf die Zufriedenheit zielt. Die Zahl der Kontakte wirkt sich linear auf die Kundenzufriedenheit aus, die Qualität aber ungefähr im Quadrat – sie hat also eine wesentlich größere Wirkung. Und insofern arbeiten wir jetzt an der Qualität. Die Produktgeber können sich beispielsweise künftig in Deutschland noch viel besser um die Bearbeitungszeiten in ihrer Wertschöpfungskette kümmern.

Kommen Sie voran?

Die Allianz misst die Kundenzufriedenheit mit der Wiederempfehlungsbereitschaft nach der Net-Promoter-Methode. Im Coronajahr 2020 hat es unser Sachversicherer erstmals geschafft, besser als der Durchschnitt des Marktes zu sein. Der Lebensversicherer ist ebenfalls über dem Marktniveau, nur der Krankenversicherer liegt noch im Durchschnitt.

Warum legen Sie so großen Wert auf die Kundenzufriedenheit?

Ganz einfach: Sie korreliert immer mit Wachstum. Das nächste Ziel in Deutschland ist der Loyality-Leader, also eine wirklich überragende Anerkennung der Kunden. Diese Position ist erreichbar, wie die Region Zentral- und Osteuropa zeigt. Dort ist die Allianz in zehn von elf Märkten in der Sachversicherung der Loyality-Leader, in der Lebensversicherung sind wir dort in neun von elf Märkten an der Spitze

Was wünschen die Kunden?

Die Bedürfnisse unserer Kunden verändern sich extrem. Sie wollen heute nicht nur Top-Angebote zu Top-Preisen, sondern auch Einfachheit und Schnelligkeit. Eine derartige Perfektion haben sie bei den Big Techs gelernt. Dieser Herausforderung haben wir uns zu stellen.

Wie lösen Sie dieses Problem?

Ein wichtiger Motor, um die Anforderungen unserer Kunden zu erfüllen, ist das Allianz-Kundenmodell. Es wird von den Allianz-Gesellschaften gemeinsam entwickelt und definiert entlang der gesamten Wertschöpfungskette harmonisierte Prozesse und Standards – das hat bisher noch kein Versicherer gemacht.

Können Sie das bitte genauer erläutern?

Bisher war es so: Im Schnitt liefen in einer Landesgesellschaft 100 Produkte über 100 Prozesse in rund 1000 Varianten – das sind mehr als 100000 Prozessvarianten. Künftig werden alle Allianz-Gesellschaften davon profitieren, Teil einer einzigen weltweiten Lösung zu sein mit einem neuen globalen Masterprodukt je Produktsegment.

Wie viele Prozesse gibt es künftig?

Die Zahl der notwendigen Prozesse wurde von über 100 auf rund 30 reduziert. Diese 30 Prozesse wurden zusätzlich produktübergreifend harmonisiert – zu sogenannten Masterprozessen. Das heißt, diese Masterprozesse gelten über alle Masterprodukte hinweg gleich. Auch hier wird es noch Varianten geben, aber auch diese werden reduziert.

Wie viele Prozessvarianten gibt es noch bei einem konkreten Produkt?

Beim globalen Kfz-Masterprodukt ist es zum Beispiel unser Ziel, bei 30 Prozessen und unter 100 Prozessvarianten zu bleiben. Diese Produkte und Geschäftsmodelle können wir unseren Gesellschaften zur Verfügung stellen. Die Skalierung von Geschäftsmodellen in der Versicherungswirtschaft ist völlig neu.

Welche Merkmale muss ein derartiges Masterprodukt haben?

Das Produkt ist einfach und intuitiv. Es hat sehr klare und verständliche Bedingungen, sodass der Kunde im Schadenfall nicht negativ überrascht wird. Natürlich muss auch die Schadenregulierung effizient und schnell sein.

Wie ausgeprägt ist die weltweite Standardisierung?

Unsere operativen Einheiten können Anpassungen in begrenztem Umfang an lokale Marktanforderungen vornehmen. Dabei handelt es sich etwa um rechtliche Vorgaben oder Wettbewerbsbedingungen. Wir haben in verschiedensten Märkten im Schaden-Unfallgeschäft mit Privatkunden Produkte des Allianz-Kundenmodells entwickelt. Es hat sich gezeigt, dass rund 90% jedes Produkts standardisierbar sind.

Hatten Sie dies erwartet?

Dieser ganz hohe Grad an Gemeinsamkeiten war überraschend. Im privaten Schaden- und Unfallgeschäft wurden die Produkte Motor und Non-Motor bereits in verschiedenen Märkten erfolgreich ausgerollt, ebenso die Sales-Digital-Workstation im Vertrieb. Jetzt folgen weitere Märkte sowie andere Sparten und Bereiche.

Eine Lokalisierung von nur 10% könnte auch zur Folge haben, dass die Allianz am Bedarf vorbei standardisiert.

Die besten Produkte weltweit werden verglichen, und so wird Best Practice zum Masterprodukt der globalen Kundenplattform. Schauen Sie auf das neue Privatschutzprodukt, das wir in Deutschland nach dem Allianz-Kundenmodell entwickelt und gleich zu Beginn der Coronakrise gestartet haben: Wir haben bis jetzt 850000 Policen verkauft, also 5000 Stück pro Tag. Das Produkt hat unsere Geschäftsplanung übertroffen. Die deutsche Schaden- und Unfallgesellschaft hat jetzt den Zuschlag für das entsprechende Masterprodukt be­kommen und ist damit für die Internationalisierung des Produkts verantwortlich – es wird schon in anderen Märkten eingesetzt, zum Beispiel in Italien, dort heißt das Produkt Ultra und ersetzt 799 Altprodukte.

Gibt es Produkte, die sich nicht einheitlich gestalten lassen?

Auf einen derartigen Fall sind wir noch nicht gestoßen. Aber natürlich haben wir mit den volumenstarken Produkten begonnen, denn wir haben ja auch Entwicklungskosten.

Die schon verkauften komplexen Produkte verschwinden aber nicht.

Wir arbeiten mit vielen Aktionen daran, dass die Bestandskunden auf die neueste Variante wechseln. Das ist ganz wichtig. Beim Masterprodukt Privatschutz ist es absehbar, dass wir den Bestand komplett drehen. Unser Ziel ist es, maximal zwei Tarifgenerationen zu haben.

Welche Masterprodukte bringt die Allianz in nächster Zeit auf den Markt?

Für die mittelgroßen Unternehmen haben wir ein großes Projekt gestartet. Dieses Segment ist herausfordernder als das Privatkundengeschäft, für das man ein Produkt in 15 Monaten entwickeln kann. Für sehr kleine Unternehmen kommt in Zentral- und Osteuropa noch in diesem Jahr ein Masterprodukt auf den Markt, womit wir die Mehrsprachigkeit und Multi-Currency-Fähigkeit unter Beweis stellen. Deutschland folgt in 2022 mit dem Produkt Unternehmensschutz. Wir bereiten außerdem Masterprodukte für Biometrie und Unit Linked vor. Damit werden wir in Europa noch eine Menge Potenziale heben können.

Die weitgehend autonomen Landesgesellschaften müssen damit ein zentral konzipiertes Produkt vermarkten. Wie motivieren Sie die selbstbewussten Tochterunternehmen?

Wir binden alle großen Gesellschaften in einer anfänglichen Visioning-Phase ein. Dort kommen die Varianten, die wir haben, auf den Tisch. Jeder kann mitreden und das künftige Masterprodukt beeinflussen.

Nach Start des Produkts aber brauchen die Landesgesellschaften beispielsweise weniger aktuarische Kompetenz. Wie groß ist der Widerstand?

Jeder hat weiterhin seine Aufgaben. Außerdem muss nach dem Marktstart zweimal im Jahr geschaut werden, ob ein Produkt noch marktgerecht ist. Gegebenenfalls muss angepasst werden. Zwar ist Deutschland relativ häufig federführend bei der Entwicklung der Masterprodukte, aber auch andere Länder wie Spanien oder Italien sind solche Lead-Gesellschaften. Zentral- und Osteuropa beispielsweise hat den Lead beim sogenannten Claims Tracker Motor, mit dem der Kunde in Echtzeit über den Stand seines Kfz-Schadens informiert wird.

Ziehen die Beschäftigten mit?

Das Engagement und die Motivation der Mitarbeiter steigt – das ist sehr wichtig. Wir brauchen auf der einen Seite die harte Performance, auf der anderen Seite benötigen wir neben dem Kundenzuspruch auch die Mitarbeiterzufriedenheit. In Deutschland ist unsere Messlatte Employee Engagement Index im vergangenen Jahr um 9 Punkte gestiegen.

Wie ist der starke Anstieg gelungen?

Natürlich muss man für das Jahr 2020 einen Corona-Effekt anerkennen, denn viele Mitarbeiter haben es sehr wertgeschätzt, dass wir nicht auf Maßnahmen wie Kurzarbeit zurückgegriffen haben. Was mich auch sehr freut: In Zentral- und Osteuropa ist der Work-Well-Index um weitere 4 Punkte gestiegen – trotz der erheblichen Transformation in der Region. Er ist damit sogar noch besser als in Deutschland.

Wie vereinfachen Sie neben den Produkten die Prozesse?

Auch in der Schadenbearbeitung identifizieren wir die Best Practices. Beispielsweise haben wir einen Masterprozess für die erste Meldung eines Schadens entwickelt. Das läuft nun in Australien genauso ab wie in Spanien.

Ist Deutschland auch an Bord?

Ja, dort sind wir sogar einen Schritt weitergegangen. Wir haben diesen Prozess mit einem Sprach-Bot kombiniert. Bei Naturkatastrophen kommen unsere Kunden so trotz eines Ansturms auf die Hotline zum Zug. Außerdem hält künstliche Intelligenz Einzug in die Schadenbearbeitung. Wir werden von September an Schadenhöhe und Komplexität von Autounfällen zunächst intern automatisiert mit Hilfe von Fotos schätzen. 2022 soll dies auch für externe Prozesse genutzt werden.

Welche Rolle spielt die IT bei der Standardisierung?

Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Denn man kann ja alles definieren, aber wie kommt es in die Um­setzung? Wir sind gerade dabei, eine globale Anwendungsplattform zu bauen – unseres Wissens nach als erster Versicherer. Diese neue Business-Master-Plattform hat den enormen Vorteil, dass die Allianz damit ihren Landesgesellschaften die höchste IT-Expertise geben kann. Sie erhalten ein standardisiertes Produkt und die Geschäftsmodule als Service. Alles lässt sich an ihr Vertriebsinstrumentarium anschließen.

Wie hoch sind die Einsparungen?

Heute haben wir bei der Allianz weltweit 70 Plattformen. Unser Ziel ist es, über das Abschalten der Altsysteme bis zum Jahr 2024 rund 600 Mill. Euro Kosten einzusparen. In Deutschland werden wir fast drei Viertel unserer alten Anwendungen abstellen.

Welche Vorteile bringt die gesamte Standardisierung der Allianz?

Best Practice wird zur Regel, und so verbessern wir die Qualität messbar. Außerdem realisiert die Allianz Größenvorteile und investiert die Erträge teilweise in Deckungserweiterungen, besseren Service oder wettbewerbsfähigere Preise. Wir stecken das Geld auch in technische Exzellenz, einem globalen Verbesserungsprozess beispielsweise in Tarifierung und Preissetzung. Wir setzen dabei auf das granulare Verständnis von Risiken und Kundenverhalten durch eine Vielzahl von Datenquellen und auf fortschrittliche Analytik. Zudem haben wir einen Zertifizierungsprozess für das Pricing für alle P&C-Einheiten global aufgesetzt und konnten so die Preisgestaltung konzernweit verbessern.

Können Sie ein Beispiel geben?

Es gibt drei Zertifizierungsstufen. Das Vorrücken auf der Zertifizierungsleiter verbessert das profitable Wachstum einer Einheit um bis zu zwei Prozentpunkte in der Schadenquote.

Das klingt wie ein klassischer Verbesserungsprozess, nur mit neuer Terminologie versehen.

Die Methodik ist viel ausgefeilter als früher. Wir können beispielsweise die Preise anpassen an die Bereitschaft der Kunden, einen Vertrag abzuschließen. Wir gucken uns an: Wie viele Angebote brauche ich, um in einen Vertrag zu konvertieren? Dann lassen sich täglich bestimmte Tarifmerkmale ändern. Die wahre Bedeutung der technischen Exzellenz liegt jedoch in der Verbindung mit dem Allianz-Kundenmodell.

Inwiefern?

Das Kundenmodell bringt durch die Vereinfachung eine höhere Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit. Die neuen Ressourcen investieren wir in technische Exzellenz, und dadurch entsteht ein Wachstumskreislauf.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Schauen Sie sich Deutschland an: Als wir angefangen haben im Jahr 2018, ist das Schaden- und Unfallgeschäft um 3,8% gewachsen, und vor dem atypischen Corona-Jahr waren es 2019 schon 5,1%. Das ist unser Ziel: Einen Wachstumskreislauf in Gang zu setzen, der auch durch Investitionen von Ressourcen aus dem Allianz-Kundenmodell gefüttert wird, gepaart mit dieser technischen Ex­zellenz.

Wird dieser Kreislauf nach der Pandemie sofort wieder funktionieren?

Wir haben schon noch kleinere Hindernisse zu überwinden, schließlich waren wir in der Corona-Phase zurückhaltender mit Investitionen. Das Wachstum muss sich jetzt erst wieder normalisieren.

Wie stark senken Vereinfachung und technische Exzellenz die Kostenquote in der deutschen Sachversicherung?

Die Produktivität ist enorm gestiegen. Als ich als Vorstandsvorsitzender der Allianz Deutschland angefangen habe, lag die Kostenquote bei 25,7%. Dieses Jahr ist unser Ziel 23,8%. Wir versuchen also, jedes Jahr im Schnitt 0,5 Prozentpunkte besser zu werden; ein Teil kommt dabei aus der Kostendegression durch das Wachstum.

Die Transformation führt zu Machtverschiebungen, die Allianz Deutschland AG löst sich auf. Wird sich nun grenzüberschreitend beispielsweise ein Machtzentrum Leben bilden?

Es geht eben nicht um Macht, sondern um eine Konsolidierung von Best Practices. Das ändert sich im Konzern: Wir sammeln über das Visioning die besten Produkte und Verfahren ein und machen diese zur gemeinsamen Praxis.

Trotzdem zielt der Mensch nicht nur quasi altruistisch auf Best Practice, er will auch das Sagen haben. So ist auch der Allianz-Manager. Wo bilden sich neue Linien?

Wir sind im Aufbauprozess des Kundenmodells. Wenn es dann läuft, werden wir gemeinsam mit unseren operativen Einheiten besprechen, wo noch Änderungsbedarf besteht. Das bedeutet: Es entscheidet nicht mehr nur einer. Wir haben dann einen auf breiter Marktabstützung beruhenden Entscheidungsprozess.

Das Interview führte

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