EU-Wiederaufbauprogramm

Italien verspielt Jahr­hundert­chance

Fast ein Viertel der Gelder im Wiederaufbauprogramm Next Generation EU fließt nach Italien. Doch die Hoffnungen auf eine nachhaltige Erholung und Gesundung drohen sich in Luft aufzulösen.

Italien verspielt Jahr­hundert­chance

Italien ist der bei weitem größte Nutznießer des Europäischen Wiederaufbauprogramms (Next Generation EU): Mit 191,5 Mrd. Euro fließt fast ein Viertel der insgesamt 800 Mrd. Euro in das Belpaese – in Form sehr zinsgünstiger Kredite oder nicht rückzahlbarer Zuschüsse. Die damit verbundene Hoffnung Brüssels war bzw. ist es, dem hoch verschuldeten Land, das immer wieder die Stabilität der gesamten Eurozone bedroht und seit 20 Jahren unter niedrigen Wachstumsraten und einer stagnierenden Produktivität leidet, einen dringen nötigen Modernisierungsschub zu geben.

Scharfe Kritik

Zwar ist Italien in den beiden vergangenen Jahren dank der europäischen Hilfen und einer Vielzahl von teilweise extrem großzügigen Bonuszahlungen etwa für die ökologische Sanierung von Gebäuden deutlich stärker gewachsen als etwa Deutschland. Doch die Hoffnungen auf eine nachhaltige Erholung und Gesundung drohen sich in Luft aufzulösen.

Schon seit eineinhalb Jahren ist deutlich, dass das Land bei der Umsetzung der mit dem Programm verbundenen Reformen weit hinterherhinkt. Erschwerend kommt hinzu, dass Italien große Probleme hat, die bisher aus Brüssel überwiesenen 67 Mrd. Euro auch auszugeben und konkrete Vorhaben auf den Weg zu bringen.

Doch erst jetzt hat Brüssel (vorerst) die Reißleine gezogen und droht, die nächste Tranche über 19 Mrd. Euro nicht auszuzahlen. Rom hat 30 Tage Zeit für eine Aktualisierung des Programms eingeräumt bekommen. Meinungsverschiedenheiten gibt es etwa über den Bau von zwei Fußballstadien in Venedig und Florenz, die aus EU-Sicht nicht den Vorgaben eines „integrierten Stadtentwicklungsplans“ entsprechen. Doch die Kritik geht tiefer. Es besteht die Gefahr, dass Italien eine „Jahrhundertchance“, wie sie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nennt, verspielt und die EU selbst dadurch einen großen Vertrauensverlust erleidet.

„Das Problem geht auf das Jahr 2020 zurück, als eine Reihe von unzusammenhängenden Projekten konzipiert wurde, die nicht ausreichend kohärent waren, um das Wachstumspotenzial Italiens zu stärken. Von da an war alles kaskadenartig. Es ist jedoch nicht klar, warum die Europäische Kommission erst jetzt herausfindet, dass einige Projekte nicht gut laufen“, meint Gabriele Menotti Lippolis, Tourismusunternehmer und Präsident des Industriellenverbandes Confindustria in Apulien, gegenüber der Börsen-Zeitung. Er spielt darauf an, dass der damalige Premier Giuseppe Conte seinerzeit ein Programm vorgelegt hat, dass eher einem Wunschkonzert ähnelte und Hilfen mit der Gießkanne ausschütten sollte. Sein Nachfolger Mario Draghi überarbeitete diese Vorschläge dann innerhalb von nur 30 Tagen, konnte in dieser kurzen Zeit aber nicht alles neu justieren.

Dazu kommt seit Mitte 2022 die hohe Inflation, die dazu geführt hat, dass viele Pläne überarbeitet werden mussten. Ein Großteil der Projekte ist blockiert, weil es für viele Ausschreibungen keinen einzigen Bewerber gab.

Die Hälfte der geplanten Maßnahmen hat erhebliche Verspätung. Der italienische Rechnungshof sorgte vor wenigen Tagen mit einem Bericht für großes Aufsehen: Von den bisher aus Brüssel nach Rom überwiesenen Geldern sind demnach erst 6% ausgegeben worden. Italien hat diesbezüglich seit jeher Probleme und etwa nur 34% der Gelder des europäischen Kohäsionsfonds für den Zeitraum 2014 bis 2020 verwendet.

Lippolis hatte bereits Anfang 2022 in der Börsen-Zeitung Befürchtungen geäußert, „dass Italien die einzigartige Chance des europäischen Wiederaufbauprogramms mit den riesigen finanziellen Mitteln“ womöglich nicht nutzen kann. Für Giuseppe Arleone, Unternehmensberater und Ökonom des Thinktanks Competere, liegt das an der „Schwerfälligkeit der öffentlichen Verwaltung und einer Bürokratie, die die Verfahren verlangsamt. Die tatsächliche und erhebliche Gefahr liegt in der zeitlichen Planung der Reformen und ihrer Umsetzung, um eine reibungslose Verwaltung der Mittel zu ermöglichen.“

Viele Gemeinden vor allem in Süditalien sind nicht in der Lage, Projekte auf- und umzusetzen. Es fehlt ihnen an Know-how und an qualifiziertem Personal. So konnte mangels Bewerbern nur ein Bruchteil der geplanten 15000 Neueinstellungen vorgenommen werden. Die Stellen sind häufig schlecht bezahlt und zeitlich befristet. Doch auch das Profil der Interessenten lässt erheblich zu wünschen übrig. Und Genehmigungsverfahren sowie die Umsetzung auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene sind oft schwerfällig.

Die Regierung Meloni ist nun in der Bredouille. Sie schiebt die Schuld für die Probleme einerseits auf die Vorgängerregierung unter Draghi, die Vorhaben und Reformen nicht umgesetzt habe, was aber auch daran lag, dass vieles angesichts der sehr heterogenen „Fast“-Allparteienregierung nicht durchzusetzen war.

Die Regierung Meloni trat nun die Flucht nach vorn an: Angesichts der großen Probleme sei eine Verlängerung der Frist für die Umsetzung der Vorhaben notwendig. Es sei mathematisch erwiesen, dass nicht alle Ziele wie geplant bis 2026 realisiert werden könnten, sagte der für europäische Angelegenheiten zuständige Minister Raffaele Fitto.

Das nicht gerade vorbildliche Verhalten Italiens bietet jedoch wenig Anlass für ein Entgegenkommen Brüssels. Denn bei der Umsetzung der Reformen, zu denen sich das Land im Zusammenhang mit den europäischen Hilfen verpflichtet hat, hinkt es weit hinterher. Die von Dra­ghi geplante und dringend nötige Katasterreform wurde stillschweigend beerdigt. Die Liberalisierung von Dienstleistungen in den Häfen und des Taximarktes, vor allem aber die seit Jahrzehnten verschleppte Neuausschreibung von Strandbadlizenzen werden weiter blockiert, obwohl Verfahren gegen Rom laufen und der Europäische Gerichtshof dazu schon in den nächsten Tagen ein Urteil sprechen könnte.

Die italienische Regierung will nun retten, was zu retten ist, und macht es damit teilweise noch schlimmer. Der profilierungssüchtige Vize-Premier und Lega-Chef Matteo Salvini will sich als Macher darstellen und nur noch Aufträge mit Volumen von mehr als 5,3 Mill. Euro ausschreiben lassen. 98% der Ausschreibungen würden damit nach undurchsichtigen Verfahren entschieden, was Giuseppe Busia, Chef der Antikorruptionsbehörde, auf den Plan rief. Auch Carlo Bonomi, Chef des Industriellenverbandes Confindustria, äußerte Bedenken wegen der damit verbundenen Intransparenz und der Gefahr der Vergabe von Aufträgen an Verwandte und Freunde von Freunden. Dass Busia auch das Eindringen krimineller Organisationen und mögliche Korruption ins Spiel brachte, sorgte für einen heftigen Streit mit Salvini, der Busias Rücktritt forderte. Dieser habe die lokal Verantwortlichen beleidigt, fand Salvini.

Minister Fitto will den Plan jetzt möglichst rasch überarbeiten, um Brüssel zu besänftigen und die Glaubwürdigkeit Italiens zu retten. Außerdem hat Ministerpräsidentin Giorgia Meloni die Zuständigkeit für die Umsetzung des Plans weitgehend an sich gezogen, was zunächst für weitere Friktionen und Verzögerungen gesorgt hat.

Nervosität in Brüssel

„Der Schwerpunkt muss jetzt auf den Arbeiten liegen, die sofort durchgeführt werden können, während komplexere Projekte auf andere Finanzierungskanäle verlagert werden“, fordert Lippolis, der aber hinzufügt: „Ich vertraue darauf, dass das Geld trotzdem ausgegeben wird.“

„Verzögerungen sind nicht in unserem Interesse“, sagt Francesco Giavazzi, der sehr einflussreiche Wirtschaftsberater des früheren Premiers Draghi. Damit würde das Wachstum 2023 um bis zu drei Prozentpunkte gedrückt. Brüssel hat sich zuletzt darum bemüht, den Konflikt zu entdramatisieren. Der italienische EU-Wirtschaftskommissar und Ex-Ministerpräsident Paolo Gentiloni wies öffentlich darauf hin, dass es auch bei anderen Ländern zu Verzögerungen bei der Umsetzung der Maßnahmen kommen könnte.

Doch die Nervosität in Brüssel in Bezug auf Italien dürfte gleichwohl groß sein. Die aktuellen Probleme bestärken die Kritiker der Hilfen für das Land. Italien ist ein Testfall: Sollte er scheitern, hätte das unabsehbare Folgen nicht nur für Italien, sondern auch für Europa. Die Bereitschaft, weiteren Programmen zuzustimmen, die mit einer gemeinsamen europäischen Schuldenaufnahme finanziert werden, wie von Meloni gefordert, dürfte dann wohl gegen null sinken.

Von Gerhard Bläske, Mailand

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