Jörg Krämer, Commerzbank

„Das habe ich in 30 Jahren noch nie erlebt“

In Deutschland wird der Kampf gegen Corona erneut verschärft. Im Interview spricht Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer über die wirtschaftlichen Folgen der vierten Infektionswelle, die anhaltenden Lieferengpässe – und die Reaktion der EZB.

„Das habe ich in 30 Jahren noch nie erlebt“

Herr Krämer, droht der Wirtschaft in Deutschland und im Euroraum wegen der vierten Coronawelle eine erneute Rezession?

Wir rechnen für das Winterhalbjahr mit einer Stagnation, aber das Bruttoinlandsprodukt könnte im vierten Quartal auch leicht sinken. Die neue Coronawelle und die damit verbundenen Beschränkungen vor allem für Ungeimpfte belasten Restaurants, Gaststätten und andere Dienstleister. Auch das verarbeitende Gewerbe leidet unter Corona. Denn selbst bei kleinen Ausbrüchen schließt die chinesische Regierung ganze Fabriken oder Häfen, was zu neuen Nachschubproblemen für die deutsche Wirtschaft führt.

Wie lang werden diese globalen Materialengpässe das Wachstum noch belasten – und wie schlimm wird es noch?

Die Industrieunternehmen haben gegenüber dem Ifo-Institut angegeben, dass die Materialengpässe weitere acht Monate anhalten werden. Das ist plausibel. Denn die beiden vorherigen Infektionswellen ebbten jeweils erst im Frühsommer ab. Bis dahin wird der Materialmangel die Unternehmen in Atem halten. Zu­letzt haben immerhin 70% der Unternehmen gesagt, dass fehlendes Material ihre Produktion behindert. Ich arbeite jetzt seit 30 Jahren als Ökonom, aber das habe ich noch nie erlebt.

Sollte die Fiskalpolitik auf nationaler und EU-Ebene jetzt mehr tun, um die Wirtschaft zu unterstützen?

Bitte nicht. Unser Problem ist doch nicht eine mangelnde Nachfrage. Ganz im Gegenteil: Der Wahlkämpfer Donald Trump hatte in den USA die wöchentliche Arbeitslosenhilfe zwischenzeitlich um 600 Dollar aufgestockt. Die so aufgeblähte Nachfrage stieß auf ein coronabedingt ge­schrumpftes Angebot. Diese fiskalpolitisch verursachte Übernachfrage ist der wahre Grund für das Inflationsproblem, das die USA bereits haben. Diesen Fehler sollten wir in der EU nicht wiederholen und unsere Konjunkturprogramme nicht aufstocken.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ein Ende ihres Corona-Notfallanleihekaufprogramms PEPP im März 2022 avisiert. Ist es angesichts des jüngsten Infektionsgeschehens doch noch zu früh für diesen Schritt?

Das PEPP-Kaufprogramm ist schon vom Namen her an die Pandemie geknüpft. Aber die Pandemie ist im März absehbar noch nicht vorbei. Insofern ist es erstaunlich, dass die EZB das PEPP im März beenden will. Vermutlich will sie einer kritischen Öffentlichkeit signalisieren, dass sie etwas gegen die hohe Inflation tut. Aber letztlich dürfte sie die Käufe im Rahmen des APP-Programms aufstocken. Es wird weiter zu viel Geld in Umlauf kommen. Deshalb glaube ich nicht die Erzählung vom nur vorübergehenden Inflationsanstieg. Stattdessen sollte sich der erwartete Rückgang der Inflation nach der Jahreswende als vorübergehend erweisen.

Die hohe Inflation in Deutschland und im Euroraum hält sich in der Tat hartnäckiger als erwartet. Unterschätzt die EZB das Problem, und droht eine neue „Inflationsdenke“ bei Bürgern und Unternehmen?

Die EZB und viele Ökonomen reden das Inflationsproblem klein. Aber je länger die Inflation hoch bleibt, desto mehr gewöhnen sich Konsumenten, Unternehmen und Gewerkschaften daran. In diesem Umfeld lassen sich Preise und Löhne einfacher erhöhen, auch wenn der Lohnanstieg im Euroraum zurzeit noch niedrig ist. Es wird Zeit, dass die EZB den Fuß vom Gas nimmt, also die Anleihekäufe rasch beendet und danach die Leitzinsen anhebt.

Die Fragen stellte Mark Schrörs.

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