Im InterviewLoretta Mester

„Die Kosten eines Unterschießens der Geldpolitik sind höher“

Die Frage, ob die US-Notenbank Fed ihren Leitzins noch weiter anhebt oder nicht, treibt Marktteilnehmer und Ökonomen weltweit um. Im Interview der Börsen-Zeitung äußert sich Loretta Mester, Präsidentin der regionalen Fed Cleveland, zur Lage.

„Die Kosten eines Unterschießens der Geldpolitik sind höher“

Im Interview: Loretta Mester

"Die Kosten eines Unterschießens sind höher"

Die Präsidentin der Fed Cleveland über die Lage der US-Wirtschaft, den Ausblick für die Inflation, weitere Zinserhöhungen und Lehren aus der Krise

Die Frage, ob die US-Notenbank Fed ihren Leitzins noch weiter anhebt oder nicht, treibt Marktteilnehmer und Ökonomen weltweit um. Am Freitag hat der US-Arbeitsmarktbericht Zinserhöhungserwartungen eher gedämpft. Im Interview äußert sich Loretta Mester, Präsidentin der regionalen Fed Cleveland, zur Lage.

Das Interview führte Mark Schrörs.

Frau Mester, die US-Wirtschaft steht besser da als von vielen erwartet, auch wenn es zuletzt ein paar schwächere Daten gab. Wie schätzen Sie Lage und Ausblick ein?

Das große Problem der US-Wirtschaft ist seit geraumer Zeit und auch weiterhin die hohe Inflation. Wir haben ziemlich gute Fortschritte gemacht. Die Inflationsraten sind gegenüber ihren Höchstständen vor einem Jahr deutlich zurückgegangen. Die Inflation ist aber immer noch viel zu hoch. Die Kerninflation ohne Energie und Lebensmittel liegt immer noch bei mehr als 4%. Vor allem bei den Dienstleistungen ist die Inflation hartnäckig. Es bleibt für uns also noch viel zu tun. Wir müssen die Inflationsrate nachhaltig und zeitnah auf unser Ziel von 2% senken, und wir sind fest entschlossen, das zu tun.

Und wie sieht es mit der wirtschaftlichen Aktivität aus?

Seit Beginn des Sommers haben wir einige Daten aus der Realwirtschaft gesehen, die stärker waren als viele Prognostiker erwartet haben. Der US-Wirtschaft geht es also ganz gut. In meiner eigenen Prognose gehe ich von einer Verlangsamung des Wachstums auf einen Wert unterhalb des Trendwachstums aus. Bisher haben wir das in den Zahlen aber nicht wirklich gesehen, auch wenn eine Reihe von Zukunftsindikatoren darauf hindeutet, dass sich die Verlangsamung fortsetzen wird. Was wir jetzt brauchen, ist eine Abschwächung der Nachfrage. Die Nachfrage muss sinken, um mit dem Angebot in Einklang zu kommen. Das gilt sowohl auf den Produktmärkten als auch auf dem Arbeitsmarkt. Das wird dazu beitragen, den Preisdruck weiter zu mindern.

Bislang sind Angebot und Nachfrage aber nicht in Balance?

Wir haben Fortschritte bei der Dämpfung der Nachfrage durch unsere geldpolitischen Maßnahmen erzielt. Zugleich gibt es Fortschritte auf der Angebotsseite. Die Störungen bei den Lieferketten haben sich verbessert. Wir sehen auch eine Verbesserung des Angebots auf dem Arbeitsmarkt. Mehr Menschen kehren auf den Arbeitsmarkt zurück. Aber wir brauchen weitere Fortschritte, um Angebot und Nachfrage in Einklang zu bringen. Und daraus ergeben sich dann auch die derzeit entscheidenden Fragen für die Geldpolitik. Haben wir die Geldpolitik restriktiv genug ausgerichtet? Und wie lange muss die Geldpolitik restriktiv sein, um die Inflation wieder auf 2% zu bringen?

Und wie lauten Ihre Antworten auf diese Fragen?

Die jüngsten Indikatoren deuten darauf hin, dass die Nachfrage etwas stärker ist als erwartet, dass die Dynamik in der Wirtschaft größer ist als gedacht. Wenn aber die zugrunde liegende Nachfrage stärker ist als erwartet, braucht es eine restriktivere Politik. Ich kann mir gut vorstellen, nach dem, was ich bislang sehe, dass wir vielleicht etwas höher gehen müssen, dass wir also den Leitzins noch etwas anheben müssen. Bis zu unserer nächsten Entscheidung im September ist aber noch viel Zeit, und wir bekommen bis dahin viele Daten und Informationen. Es geht da auch um die Abwägung zweier Risiken. Wir wollen die Geldpolitik nicht zu stark straffen und der Wirtschaft keine unnötigen Schmerzen bereiten. Wir wollen die Geldpolitik aber auch nicht zu wenig straffen. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass die Kosten für die Rückkehr zur Preisstabilität sogar noch höher sind, wenn wir zu wenig straffen. Angesichts der Stärke des Arbeitsmarktes und der Stärke der zugrunde liegenden Nachfrage bin ich der Auffassung, dass aktuell die Kosten einer unzureichenden Straffung größer sind.

Bei den Schmerzen für die Wirtschaft geht es nicht zuletzt um Jobs. Ist bei der aktuellen Arbeitslosenquote von sehr niedrigen 3,8% eine Rückkehr zum 2-Prozent-Inflationsziel möglich, oder braucht es mit Blick auf das Lohnwachstum dafür eine höhere Arbeitslosenquote?

Auch der Arbeitsmarkt ist wieder mehr ins Gleichgewicht gekommen. Die Zahl der offenen Stellen geht zurück, und dadurch verbessert sich das Verhältnis zwischen offenen Stellen und Arbeitslosenquote ohne großen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Wir müssen jetzt sicherstellen, dass diese positive Entwicklung nicht ins Stocken gerät. Meine eigene Prognose sieht einen Anstieg der Arbeitslosenquote vor. Wir haben keine genaue Schätzung für die sogenannte natürliche Arbeitslosenquote. Man sollte sich also nicht darauf festlegen, ein bestimmtes Niveau erreichen zu wollen. Ich gehe aber davon aus, dass wir einen gewissen Anstieg der Arbeitslosigkeit sehen werden.

Und wie beurteilen Sie die jüngste Entwicklung des Lohnwachstums? Sind Sie noch besorgt, dass sich die Inflationserwartungen vom Zielwert von 2% lösen könnten und es zu einer Lohn-Preis-Spirale kommt?

Das Lohnwachstum hat sich etwas abgeschwächt, da sich der Arbeitsmarkt beruhigt hat. Aber wir wissen auch, dass das derzeitige Lohnwachstum höher ist als das, was angesichts des Produktivitätswachstums mit einer Inflationsrate von 2% in Einklang steht. Was die Erwartungen betrifft: Die mittel- und längerfristigen Inflationserwartungen sind ziemlich gut verankert – auch wenn sie am oberen Ende der Spanne liegen, die man als konsistent mit 2% bezeichnen würde. Die kurzfristigen Inflationserwartungen bewegen sich natürlich stärker mit der aktuellen Inflation. Jetzt steigen zum Beispiel die Benzinpreise leider wieder an. Das müssen wir sehr aufmerksam sein. Es gibt Untersuchungen, auch der Fed Cleveland, dass man sich nicht nur auf die längerfristigen Erwartungen fokussieren sollte. Man muss auch gegen zu hohe kurzfristigen Erwartungen angehen und darf nicht zu selbstgefällig sein, selbst wenn die langfristigen Inflationserwartungen verankert sind. Wir müssen sicherstellen, dass unsere Politik restriktiv genug ist, um die Inflationserwartungen fest zu verankern und die Inflation wieder auf unser 2-Prozent-Ziel zu senken.

Wenn Sie über die Möglichkeit weiterer Zinserhöhungen sprechen, sprechen Sie nur noch von einem Schritt, wie in den Juni-Projektionen der Fed avisiert, oder können Sie sich auch mehr Zinsschritte vorstellen?

In der Juni-Projektion haben wir und habe auch ich zwei weitere Zinserhöhungen in diesem Jahr prognostiziert. Eine davon haben wir im Juli vorgenommen. Bei der September-Sitzung werden wir neue Projektionen haben, und ich kann jetzt noch nicht sagen, wie die ausfallen werden. Klar ist meines Erachtens eines: Wir wollen die Inflation auf 2% senken und die Zeit drängt. Je länger die Inflation über 2% bleibt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Risiken materialisieren. Die Inflationserwartungen können sich destabilisieren. Und die Investitionsentscheidungen von Unternehmen und Haushalten werden verzerrt – mit wirtschaftlichen Kosten. Hinzu kommt: Je schneller wir zum 2-Prozent-Ziel zurückkehren, desto besser werden wir in der Lage sein, mit jedem neuen Schock umzugehen.

Und dafür ist es dann besser, jetzt im Zweifelsfall lieber zu viel zu tun als zu wenig?

Wir haben im Moment immer noch eine ziemlich starke Nachfrage. Und dasselbe gilt für den Arbeitsmarkt. Ich denke, dass die Kosten eines Unterschießens der Geldpolitik im Moment immer noch höher sind als die eines Überschießens. Wenn wir am Ende die Zinsen zu stark anheben und die Wirtschaft stärker als nötig an Schwung verliert, können wir die Zinsen wieder senken. Im anderen Fall, wenn die Inflation zu stark anzieht, wird der Kampf sehr viel schwieriger. Dann müssten wir am Ende die Zinsen noch weiter anheben. Das wäre sehr viel kostspieliger.

Und allzu große Sorgen um eine Rezession machen Sie sich nicht, richtig? Viele Beobachter sagen eine Rezession vor allem angesichts der zeitverzögerten Wirkung der Geldpolitik voraus – in der zweiten Hälfte des Jahres 2023 oder spätestens 2024.

Unser Ziel besteht nicht darin, die Wirtschaft in eine Rezession zu treiben. Wir haben auch das Mandat Vollbeschäftigung. Wir wollen nur, dass unsere Geldpolitik die Nachfrage ausreichend dämpft. Wir schauen genau, was in der Wirtschaft passiert, und sind datenabhängig. Wir schauen aber nicht nur auf die offiziellen Daten, sondern haben auch Kontakte zu Unternehmen und Banken. Und das ist interessant: Ende vergangenen Jahres haben viele unserer Kontakte gesagt, dass sie Anfang dieses Jahres eine Rezession erwarten. Anfang des Jahres hieß es dann, Mitte des Jahres. Und jetzt glauben viele gar nicht mehr an eine Rezession. Das liegt einfach daran, dass sich die Wirtschaft viel besser entwickelt hat als erwartet. Die Menschen sind optimistischer geworden, dass es eine weiche Landung geben wird.

Ihr Amtskollege von der Fed New York, John Williams, hat unlängst für einiges Aufsehen gesorgt mit der Aussage, dass mit sinkender Inflation die Realzinsen steigen, wenn der Nominalzins unverändert gelassen wird, und dass das für Zinssenkungen im Jahr 2024 sprechen könnte. Wie schätzen Sie das ein?

Die realen Zinssätze bestimmen die Entscheidungen von Haushalten und Unternehmen. Und rein mathematisch ist das so. Klar ist aber auch: Wir werden die Zinsen bestimmt nicht weiter anheben, bis die Inflation bereits auf 2% gesunken ist. Und wir werden auch nicht damit warten, die Zinsen zu senken, bis die Inflation bei 2% liegt. Wir müssen vorausschauend sein. Aber ich erwarte derzeit nicht, dass wir die Zinssätze Anfang nächsten Jahres senken werden. Ich denke vielmehr, wir müssen noch eine ganze Zeit einen ausreichend restriktiven Kurs fahren, um die Gewissheit zu haben, dass die Inflation wieder auf 2% zurückgeht.

Sie haben die Lehren aus der Vergangenheit erwähnt. Sie sprechen sicher von der Inflationsära in den 1970er Jahren. Sehen Sie die Gefahr einer zweiten Inflationswelle, wenn die Fed die Zinserhöhungen wie damals zu früh stoppt oder den Zins gar senkt? Ex-US-Finanzminister Larry Summers sieht Parallelen und warnt die Fed vor einem zu frühen Nachgeben.

Wir sehen, dass bestimmte Preise wieder ansteigen, wie die Benzinpreise. Das kann zu einer höheren gemessenen Inflation führen. Es gibt auch noch andere Schocks, die eintreten könnten. Und es gibt meiner Meinung nach Aufwärtsrisiken bei den Inflationsprognosen. Also ja, die Inflation könnte wieder ansteigen. Wir müssen deshalb dafür sorgen, dass unsere Politik ausreichend restriktiv ist.

Wir haben jetzt viel über die Zinsen gesprochen. Ein anderer Aspekt ist der Abbau der aufgeblähten Fed-Bilanz, die quantitative Straffung. Kann dieser Prozess weitergehen, auch wenn die Zinserhöhungen gestoppt sind oder der Leitzins sogar schon wieder gesenkt wird?

Ich bin der Meinung, dass der Bilanzabbau im Hintergrund weitergehen kann und sollte, auch wenn wir die Zinsen nicht mehr erhöhen oder sogar senken. Wir müssen die Bilanz systematisch abbauen und sie wieder auf eine angemessene Größe bringen, die mit ausreichenden Reserven im Finanzsystem vereinbar ist.

An welche Bilanzgröße denken Sie, wenn Sie von einer angemessenen Höhe sprechen?

Wir haben uns noch nicht für ein bestimmtes Niveau entschieden, sondern nur für ein Niveau, das mit ausreichenden Reserven vereinbar ist und unter dem derzeitigen Niveau liegt. Wir haben im September 2019 gesehen, dass wir damals wahrscheinlich ein bisschen zu weit gegangen sind.

Damals gab es Marktturbulenzen und Liquiditätsengpässe. Heute ist die Situation aber anders?

Wir sind noch sehr weit von den damaligen Bilanzniveaus entfernt, und wir haben heute einen viel besseren Apparat, um diese Art von Spannungen auf den Märkten zu überwachen. Es gibt also noch reichlich Spielraum, um die Bilanz zu verkleinern. Und auch da gilt: Wir wollen besser für mögliche künftige Schocks gerüstet sein, für den Fall, dass wir unsere Bilanz einsetzen müssen.

Was ist Ihrer Meinung nach die wichtigste Lehre, die die Zentralbanker aus den Krisen und Erfahrungen der vergangenen Jahre ziehen sollten?

Wir müssen uns viel mehr mit Szenarien befassen, anstatt uns so sehr auf ein Basisszenario zu fokussieren. Die Unsicherheit ist immer groß. Es gibt nicht nur bei einer Pandemie verschiedene Möglichkeiten, wie sich die Wirtschaft entwickeln kann. Wir sollten diese Alternativen in Betracht ziehen, damit wir nicht nur über einen Weg nachdenken, sondern darauf vorbereitet sind, dass sich die Dinge immer anders entwickeln können als erwartet.

Die Interviewte: Loretta Mester ist Notenbankerin durch und durch. Gleich nach der Promotion an der renommierten Princeton University im Jahr 1985 trat die heute 64-Jährige als Ökonomin in den Dienst der regionalen Federal Reserve (Fed) in Philadelphia. Unterbrochen von einem kurzen Ausflug in die Fed-Zentrale in Washington, arbeitete sie bis Mai 2014 für die Fed Philadelphia und schaffte es über diverse Stationen bis zur leitenden Vizepräsidentin. Seit Juni 2014 steht sie an der Spitze der Fed Cleveland. Innerhalb des geldpolitischen Ausschusses der Fed (FOMC) gilt sie als Vertreterin eines eher strafferen Kurses, gehört also zum Lager der „Falken“. Wenn sich Mester gerade nicht mit Geldpolitik befasst, liebt sie es, in die Oper zu gehen.

Das Interview in englischer Originalfassung finden Sie hier.