EZB-Geldpolitik

„Es ist zu wenig und zu spät“

Fünf Ökonominnen und Ökonomen äußern sich im Interview, wie groß der nun anstehende Zinsschritt der EZB ausfallen sollte, und wie tauglich oder gefährlich neue Tools der Geldpolitik für die Einengung von Zinsspreads sind.

„Es ist zu wenig und zu spät“

Der EZB-Rat hat für heute die erste Zinserhöhung seit elf Jahren angekündigt und für danach weitere Erhöhungen avisiert: Ist das wegen der Rekordinflation alternativlos oder kommt das wegen des Ukraine-Kriegs und der Rezessionsgefahr zur Unzeit?

Lars Feld Professor Universität Freiburg Wirtschaftsberater Finanzministerium: Die EZB muss Geldwertstabilität gewährleisten. Dieses vornehmliche Ziel ist eindeutig in ihrem Mandat festgelegt. Bei Inflationsraten über 8 % verfehlt sie dieses Ziel derzeit in erheblichem Maße. Vor diesem Hintergrund sind Zinserhöhungen alternativlos. Sie sollte die Zinsen selbst auf Kosten einer Rezession erhöhen – angesichts der hohen Inflationsraten in Schritten von 50 Basispunkten.

Lucrezia Reichlin, Professorin London School of Economics, Ex-EZB-Generaldirektorin: Es gibt keine Alternative, da die mittelfristigen Inflationserwartungen aufgrund der Zweitrundeneffekte des Energiepreisanstiegs nach oben gehen. Die Frage ist, wie schnell die Straffung erfolgen soll und welche Kombination von Instrumenten zum Einsatz kommen soll, was sowohl von der Entwicklung der Finanz- als auch der Realwirtschaft abhängt.

Klaus Adam, Professor Universität Mannheim: Ob eine Rezession kommt, ist unsicher, denn Rezessionen sind schwer zu prognostizieren. Deshalb sollte sich die EZB nicht darauf verlassen, dass eine Rezession ihr die Arbeit abnehmen wird. Zudem ist das EZB-Zinsniveau zur Zeit extrem stimulierend. Die Realzinsen liegen auf einem historisch niedrigen Wert. Eine Normalisierung des Zinsniveaus erscheint deshalb angesichts der hohen Inflation unausweichlich.

Peter Praet, Ex-EZB-Chefvolkswirt: Der Ukraine-Krieg ist ein systemischer geopolitischer Schock. Erhöhte Unsicherheit und Stagflationsdruck werden für einige Zeit den Kontext bilden. Die vorsichtige Normalisierung der Geldpolitik ist sinnvoll, aber ihr Erfolg wird entscheidend von der Gesamtheit der anderen politischen Maßnahmen abhängen: Die EZB kann die Wirtschaft nicht allein stabilisieren. Die Geldpolitik muss durch steuer-, einkommens- und strukturpolitische Maßnahmen ergänzt werden.

Volker Wieland, Professor Universität Frankfurt, Ex-Wirtschaftsweiser: Es ist zu wenig zu spät. Die EZB hätte mit zunehmender Inflation bereits 2021 die Finanzmärkte auf eine Straffung vorbereiten und die Anleihekaufprogramme beenden sollen. Dann hätte sie bereits vor dem Ukraine-Krieg den negativen Einlagezins abschaffen und den Hauptrefinanzierungssatz in den positiven Bereich anheben können. Nun wird es schwierig, mit zunehmenden Rezessionssorgen die raschen Zinserhöhungen zu liefern, die der Markt zu Recht erwartet.

Für wie groß halten Sie aktuell die Gefahr einer Entankerung der Inflationserwartungen und einer Lohn-Preis-Spirale, und droht künftig eine dauerhaft höhere Inflation im Euroraum?

Feld: Die Inflationserwartungen sind von der aktuellen Inflation beeinflusst, so dass die Gefahr einer Entankerung der Inflationserwartungen, genauso wie diejenige einer Lohn-Preis-Spirale, derzeit groß ist. Die Lohnforderungen der Gewerkschaften in Deutschland fallen ja nicht so gering aus, dass es keine Zweitrundeneffekte gäbe. Zudem sind die Arbeitskosten schon ohne Tarifverhandlungen merklich angestiegen. Die Inflation wird also erst einmal bleiben.

Reichlin: Die Lohndynamik hat sich in Europa bisher in Grenzen gehalten. Die Zweitrundeneffekte sind begrenzter als in den USA. Wenn die Energiekrise jedoch anhält – und dies hängt von der Entwicklung des Kriegs ab –, besteht die Gefahr einer anhaltend hohen Inflation. Natürlich wird sich eine anhaltende Energiekrise auch negativ auf die Gesamtnachfrage auswirken, was wiederum die Inflation senken wird. Die Daten müssen sorgfältig überwacht werden.

Adam: Das hängt nicht zuletzt von der EZB-Zinspolitik ab. Signalisiert die EZB, durch beherzte Zinsanhebungen der Inflation Herr werden zu wollen, so ist die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale und eines weiteren Anstiegs der Inflationserwartungen gering. Agiert die EZB zu zögerlich, so erhöht sich das Risiko mit dem Effekt, dass sie später gegebenenfalls umso stärker gegensteuern muss.

Praet: Bislang hält sich die Lohn-Preis-Spirale in Grenzen, aber das Risiko einer Entankerung der Inflationserwartungen nimmt zu. Dennoch ist eine aggressive geldpolitische Straffung, die die Gesamtnachfrage drückt, nicht ratsam, da die Inflation weitgehend angebotsgesteuert ist. Es ist eine umfassende politische Reaktion erforderlich, insbesondere um die kollektive Verarmung durch die Angebotsschocks zu bewältigen. Das betrifft alle Ebenen, nicht nur die nationale Ebene.

Wieland: Die kurz-, mittel- und längerfristigen Inflationserwartungen sind bereits deutlich angestiegen. Als sie 2015 gefallen sind, hat die EZB schnell reagiert, beim Anstieg dagegen nicht. Nun kommen starke Lohnforderungen und -erhöhungen, die die Unternehmen an die Kunden weiterreichen werden. Die EZB nimmt in Kauf, dass die Inflation nächstes Jahr deutlich überschießt. Das Risiko, dass die Inflation längerfristig deutlich über dem EZB-Ziel liegt, nimmt zu.

Der Euro ist zuletzt zum Dollar eingebrochen und zeitweise unter die Parität gefallen: Wie beurteilen Sie das, und sollte sich die EZB gegen diese starke Abwertung stemmen?

Feld: Die Wechselkursentwicklung sollte man nicht überbewerten. Jedenfalls hat sie aber für sich genommen den Effekt einer weiteren Verschärfung der Preisentwicklung, da viele Rohstoffe, nicht zuletzt für die Energiegewinnung, in Dollar denominiert sind. Allein deshalb kann die EZB dies nicht ignorieren. Allerdings hat die Abwertung auch strukturelle Gründe, da die US-Wirtschaft aus dem Ukraine-Krieg gestärkt hervorgehen dürfte.

Reichlin: Ich glaube nicht, dass die Zentralbanken den Wechselkurs steuern sollten. Die EZB muss sich nur insofern Sorgen machen, als diese Entwicklung Auswirkungen auf die Inflation hat.

Adam: Die Steuerung des Wechselkurses sollte selbst kein geldpolitisches Ziel sein, es sei denn, es kommt zu größeren Zerwürfnissen an den Devisenmärkten. Das sehe ich zur Zeit nicht. Die EZB-Politik muss auf die Steuerung der Inflation abzielen. Diese wird zwar auch vom schwachen Wechselkurs beeinflusst, da sich ausländische Güter durch die Abwertung zumeist verteuern, aber der Effekt auf die Inflation ist nicht besonders stark.

Praet: Die Abwertung war geordnet und von den Fundamentaldaten bestimmt. Vor dem Hintergrund des Anstiegs der Rohstoffpreise verschärft sie den Inflationsdruck und kann nicht ignoriert werden. Das bedeutet nicht, dass die EZB ihre Geldpolitik im Gleichschritt mit den USA betreiben sollte. Die Größe der Währungsunion erlaubt eine abweichende Geldpolitik, die durch die schwächeren Fundamentaldaten gerechtfertigt ist.

Wieland: Der Wechselkurs ist kein Ziel der Geldpolitik, aber ein wichtiger Transmissionskanal. Die Abwertung rührt nicht zuletzt vom zunehmenden Zinsdifferential her. Sie zeigt, dass die EZB-Politik weiterhin sehr expansiv ist und dringend gestrafft werden muss.

Parallel zur Zinswende arbeitet die EZB an einem „Antifragmentierungsinstrument“, um ein Auseinanderdriften der Euro-Länder zu vermeiden: Ist es die Aufgabe der EZB, Renditen und Spreads zu kontrollieren und so hochverschuldete Euro-Länder wie Italien zu unterstützen?

Feld: Mit dem OMT-Programm verfügt die EZB bereits über ein gerichtsfestes Antifragmentierungsinstrument. Voraussetzung dafür ist ein ESM-Programm. Nur weil Mitgliedstaaten die Konditionalität eines solchen Programms fürchten, ist es nicht notwendig, ein neues Programm mit allen rechtlichen und ökonomischen Risiken und womöglich sogar nur geringer Konditionalität zu schaffen. Die EZB läuft Gefahr, sich von der Fiskalpolitik vereinnahmen zu lassen.

Reichlin: Wenn die Entwicklung der Zinssätze für Staatsanleihen der Peripherieländer Liquiditätsengpässe widerspiegelt, muss die EZB reagieren. Der Markt für Staatsanleihen ist das Fundament des Finanzsystems, und die EZB kann keine Störungen tolerieren, die den Transmissionsmechanismus der Geldpolitik beeinträchtigen. Daher ist das Instrument zur Bekämpfung der Fragmentierung notwendig. Es muss aber sorgfältig konzipiert werden.

Adam: Es kann nicht Aufgabe der europäischen Geldpolitik sein, die Risikoprämien der einzelnen Euro-Mitgliedsländer zu steuern. Das wäre der Einstieg in eine Transferunion mittels der Zentralbankbilanz. Die EZB kann jedoch innerhalb eines ESM-Anpassungsprogramms begleitend mitwirken oder sich einem offensichtlich unbegründeten Vertrauensverlust der Anleger im Markt entgegenstellen. Für Letzteres gibt es jedoch keine Anzeichen.

Praet: Der Antifragmentierungsmechanismus sollte darauf abzielen, geordnete Marktbedingungen im Normalisierungsprozess zu gewährleisten. In der Eurozone ist die Übertragung der Geldpolitik tendenziell asymmetrisch. Solche Asymmetrien können zu ungeordneten Verhältnissen führen, wenn die Bewertung von Risiken schwierig ist, und können ein Eingreifen der Zentralbank rechtfertigen. Der Zweck sollte jedoch nicht darin bestehen, eine nicht nachhaltige Politik zu unterstützen.

Wieland: Bisher fällt auf, dass sie auf Zinsaufschläge für hochverschuldete Staaten schneller zu reagieren scheint als auf steigende Inflationserwartungen. Es ist nicht Aufgabe der EZB, die Zinsaufschläge zu kontrollieren. Das fällt primär in den Aufgabenbereich der Fiskalpolitik, die die Tragfähigkeit und das Vertrauen der Märkte sichern muss. Für Krisen gibt es den ESM – ein fiskalisches Instrument der Solidarität, samt Vorgaben, eine stabilitätsorientierte Reformpolitik zu verfolgen.

Für wie groß halten Sie die Gefahr einer neuen Euro-Schuldenkrise, und braucht es zur Vermeidung immer neuer Krisen auf Dauer eine gemeinsame Euro-Fiskalpolitik und einen permanenten Krisenfonds im Stil des EU-Wiederaufbaufonds?

Feld: Es ist verfrüht, eine neue Schuldenkrise auszurufen. Zur Krisenvermeidung sind weder eine eigenständige EU-Fiskalpolitik noch ein permanenter Krisenfonds erforderlich. Die hochverschuldeten Staaten sollten endlich ihre Verantwortung wahrnehmen und ihre Staatsschuldenquoten reduzieren. Das ist die beste Strategie zur Vermeidung von Schuldenkrisen. Zentrale fiskalpolitische Kriseninstrumente der EU setzen dahingehend falsche Anreize.

Reichlin: Die öffentlichen Finanzen werden durch den Gegenwind, mit dem wir konfrontiert sind, aber auch durch die Notwendigkeit der Transformation unserer Volkswirtschaften zur Bewältigung des Klimawandels belastet werden. Es wird eine gemeinsame fiskalische Kapazität in irgendeiner Form erforderlich sein.

Adam: Die Ursachen der letzten großen Schuldenkrise im Euroraum sind noch nicht behoben worden und treten mit steigenden Zinsniveaus nun neu zutage. Es geht jetzt darum, die Wachstumskräfte im Euroraum zu entfesseln. Das gelingt am besten mit einer Hinwendung zu einer angebotsorientierten Politik, verbunden mit einer Reduktion der Regulierungs- und Vorschriftendichte. Mit mehr Wachstum wären alle nationalen Schuldenstände gut tragbar.

Praet: Eine neue Euro-Schuldenkrise ist im gegenwärtigen geopolitischen Umfeld nicht denkbar. Aber sich darauf zu verlassen, dass die EZB die unsolide Politik der Mitgliedstaaten stützt, wäre ein tragischer Fehler. Die EZB kann die institutionellen Schwächen der Währungsunion nicht ausgleichen. Entschlossene Fortschritte bei der Banken- und Kapitalmarktunion und die Entwicklung eines fiskalischen Instruments auf EU-Ebene sind dringender denn je.

Wieland: Selbst bei höheren Zinssätzen haben Staaten wie Italien, Spanien oder Frankreich ausreichend Zeit umzusteuern, bevor die Zinsausgaben deutlich steigen. Zudem bietet der ESM zusammen mit möglichen OMT-Interventionen der EZB einen guten Krisenschutz. Wenn man dauerhaft große Budgets auf der EU-Ebene haben wollte, müsste man ihr mehr Besteuerungsmöglichkeiten zuordnen und gleichzeitig die Spielräume auf nationaler Ebene einschränken.

Die Fragen stellte Mark Schrörs.

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