EZB-Strategieüberprüfung

EZB schafft sich mehr Flexibilität bei Inflation

Nach 18 Monaten – immer wieder unterbrochen von der Corona-Pandemie – hat der EZB-Rat nun seine erste grundlegende Strategieüberprüfung seit dem Jahr 2003 beendet. Was sich in Sachen Inflation ändert – und was nicht.

EZB schafft sich mehr Flexibilität bei Inflation

ms Frankfurt

Die Europäische Zentralbank (EZB) strebt künftig ein mittelfristiges Inflationsziel von glatt 2% anstatt wie bislang von „unter, aber nahe 2%“ – wobei sie dieses explizit symmetrisch versteht, das heißt, dass Abweichungen nach unten als ebenso unerwünscht gelten wie Abweichungen nach oben. Darauf einigten sich die Euro-Notenbanker im Zuge ihrer Strategieüberprüfung, die sie am Mittwoch ab­schlossen und deren Ergebnisse die EZB am Donnerstag vorstellte. Zugleich verständigten sie sich darauf, künftig die Inflationsmessung leicht anzupassen, und sie gaben ein explizites Versprechen zum Einsatz unkonventioneller Instrumente wie breiter Anleihekäufe ab, falls die Zinsuntergrenze erreicht sei und ein dauerhaftes Unterschießen des 2-Prozent-Ziels drohe.

Die Überarbeitung des Inflationsziels war das Kernstück der ersten Strategieüberprüfung seit 2003 – zumal Preisstabilität laut EU-Vertrag das vorrangige Mandat der EZB ist. Seit 2003 hatte der EZB-Rat mittelfristig „unter, aber nahe 2%“ anvisiert. Unklar und im Rat teils umstritten war, was damit genau gemeint war. Immer wieder für Diskussionen hatte zudem gesorgt, ob die knapp 2% wegen des „unter“ als Obergrenze zu verstehen seien – auch wenn der Rat schon unter Ex-Präsident Mario Draghi zunehmend die Symmetrie betont hatte. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hatte jüngst ge­sagt, die Formulierung sei für Beobachter und Märkte „verwirrend“.

Das nun beschlossene Ziel soll da mehr Klarheit schaffen. „Nach Auffassung des EZB-Rats kann Preisstabilität am besten gewährleistet werden, wenn er mittelfristig eine Inflationsrate von 2% anstrebt“, heißt es jetzt in der überarbeiteten „Erklärung zur geldpolitischen Strategie der EZB“. Und weiter: „Der EZB-Rat versteht dieses Ziel als ein symmetrisches Ziel. Symmetrie bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der EZB-Rat negative Abweichungen von diesem Zielwert als ebenso unerwünscht betrachtet wie positive.“ Das 2-Prozent-Ziel bilde „einen klaren Anker für die Inflationserwartungen, was für die Gewährleistung von Preisstabilität von entscheidender Bedeutung ist“.

Eine solche Neufassung des Inflationsziels hatte sich zuletzt bereits abgezeichnet und bringt die EZB auf Linie mit anderen wichtigen Zentralbanken wie der US-Notenbank Fed. Ob das den großen Unterschied macht, bleibt aber offen. Der Wirtschaftsweise Volker Wieland sagte unlängst im Interview der Börsen-Zeitung, dass die EZB-Politik der vergangenen 20 Jahre mit einem Ziel von etwa 1,75% konsistent und die Zinsreaktion bereits symmetrisch gewesen sei (vgl. BZ vom 11. Juni).

Debatte über Fed-Vorbild

Um die Symmetrie des Inflationsziels zu wahren, ist es nach Ansicht des EZB-Rats unter Umständen auch mal nötig, „dass die Inflation vorübergehend leicht über dem Zielwert liegt“. Eine solche explizite Formulierung, Zielwerte oberhalb der 2% zu tolerieren, gab es bislang nicht. Der EZB-Rat verzichtete aber darauf, dem Vorbild der Fed zu folgen und ein explizit symmetrisches Inflationsziel zu formulieren – das sogenannte „Average Inflation Targeting“. Statt jedes Jahr aufs Neue 2% anzuvisieren, strebt die Fed seit ihrer Strategieüberprüfung über einen bestimmten Zeitraum im Schnitt 2% an und will Verfehlungen in der Zukunft explizit ausgleichen. Konkret läuft das nach Jahren unterhalb des 2-Prozent-Ziels auf Jahre mit Raten oberhalb von 2% hinaus.

Im EZB-Rat gab es einige, die mit dem Fed-Vorbild sympathisierten. Andere, wie etwa Bundesbankpräsident Jens Weidmann, lehnten das ab. Die mittelfristige Ausrichtung würde es der EZB letztlich aber erlauben, einen ähnlichen Ansatz wie die Fed zu wählen und die Inflation eine gewisse Zeit überschießen zu lassen.

In seiner neuen Strategie bestätigt der EZB-Rat derweil, dass der harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) die geeignete Messgröße bleibe, um zu bewerten, ob das Preisstabilitätsziel erfüllt ist. Der Wirtschaftsweise Wieland plädiert etwa dafür, verstärkt auch andere Inflationsmaße in die Betrachtung einzubeziehen. Der EZB-Rat plädiert aber nun dafür, die Kosten für selbst genutztes Wohneigentum einfließen zu lassen. Das umzusetzen ist aber Aufgabe der Statistiker im Euroraum. Das kann Jahre dauern.

Nach EZB-Schätzungen hätte die Inflation bei einer entsprechenden Einbeziehung zuletzt rund 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte höher gelegen. Langfristig dürfte der Effekt aber eher gering sein. Die Experten von Morgan Stanley hatten etwa im Februar vorgerechnet, dass die Inflationsrate über den Zyklus hinweg nur 0,04 Prozentpunkte höher liegen würde.

Der EZB-Rat bestätigt nun auch, dass die Leitzinsen „das bedeutendste geldpolitische Instrument“ blieben. Aber: „In Anbetracht der effektiven Zinsuntergrenze wird der EZB-Rat gegebenenfalls insbesondere auch Forward Guidance einsetzen oder auf Ankäufe von Vermögenswerten und längerfristige Refinanzierungsgeschäfte zurückgreifen.“ Explizit verspricht der Rat nun auch, „den Implikationen der effektiven Zinsuntergrenze Rechnung zu tragen“: „Liegen die Zinsen in einer Volkswirtschaft in der Nähe ihrer effektiven Untergrenze, so sind besonders kraftvolle oder lang anhaltende geldpolitische Maßnahmen nötig, um zu verhindern, dass sich negative Abweichungen vom Inflationsziel verfestigen.“

Damit werden etwa breite Staatsanleihekäufe ein Stück weit mehr zu Standardinstrumenten – wie es einige Euro-Notenbanker schon lange fordern. Kritiker wie Weidmann dürften aber auch in Zukunft darauf beharren, dass nicht jede Situation ihren Einsatz rechtfertige.