Jörg Krämer, Commerzbank

„In der EZB-Brust wohnen zwei Seelen“

Die EZB sendet derzeit teils widersprüchliche Signale in Sachen Inflation und Zinswende. Im Interview spricht der Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer, über Politik und Kommunikation der EZB sowie die hohe Inflation im Euroraum.

„In der EZB-Brust wohnen zwei Seelen“

Mark Schrörs

Herr Krämer, die EZB und auch EZB-Präsidentin Christine Lagarde selbst senden derzeit widersprüchliche Signale: Erst schlägt Lagarde nach der Zinssitzung einen deutlich besorgteren Ton zur Inflation an und öffnet die Tür für eine raschere Zinswende, dann rudert sie ein wenig zurück. Zugleich ringen andere Euro-Notenbanker offen über eine Zinserhöhung noch 2022. Wie beurteilen Sie das Bild, das die EZB da gerade abgibt?

Es wohnen zwei Seelen in der Brust der EZB. Zum einen will sie für Preisstabilität sorgen, wie es das Mandat verlangt. Zum anderen schielt sie auf die Wünsche von Ländern wie Italien, die hoch verschuldet sind, die notwendigen tiefgreifenden Reformen aber scheuen und deshalb auf niedrige Zinsen drängen. Diese Ambivalenz spiegelt sich in der Kommunikation der EZB wider. Wegen der enormen Inflationsrisiken stellte sie während der jüngsten Pressekonferenz eine Normalisierung der Geldpolitik in Aussicht. Aber sie ruderte danach teilweise zurück, auch weil die Staatsanleihen der südlichen Länder unter den aufkommenden Spekulationen um höhere Leitzinsen leiden.

Einige Beobachter sprechen gar davon, dass Lagarde und andere Notenbanker „Panik“ ob der hohen Inflation erfasst habe. Wie sehen Sie das? Hat die EZB zu lange beschwichtigt?

Inflationspanik kann ich bei der EZB beim besten Willen nicht erkennen. Sie akzeptiert lediglich die Realität, nachdem sie die Inflationswelle viel zu lange als „vorübergehend“ kleingeredet hat. Für ihre Glaubwürdigkeit wäre es besser gewesen, sie hätte nicht so lange beschwichtigt und stattdessen früher gehandelt. Sie muss doch sehen, dass allein wegen der gestiegenen Unsicherheit über die künftige Inflation eine weniger expansive Geldpolitik notwendig ist. Autofahrer nehmen bei aufkommendem Nebel doch auch den Fuß vom Gas.

Alles entscheidend ist der Inflationsausblick. Wie sehen Sie die Inflationsentwicklung in diesem Jahr und vor allem auch 2023 und 2024 – was für die EZB noch wichtiger ist?

Schauen Sie sich die Euroraum-Inflation für Januar an. Die kurz vor der Veröffentlichung befragten Volkswirte hatten im Schnitt mit einer Teuerungsrate von 4,4% gerechnet. Tatsächlich sind es 5,1% geworden. Eine solche Unterschätzung einer monatlichen Inflationszahl sieht man ganz selten. Das zeigt, wie stark der unterliegende Preisdruck ist. In den kommenden Monaten werden die Verbraucherpreise weiter rasant steigen. Denn die Unternehmen haben die massiv gestiegenen Materialpreise noch lange nicht vollständig an die Konsumenten weitergegeben. Außerdem ist der Aufwärtsdruck bei den Gas- und Strompreisen nach wie vor hoch. Die im Vorjahresvergleich gemessene Inflation wird in diesem Jahr viel langsamer sinken, als es die EZB erwartet. Für den Durchschnitt dieses Jahres rechne ich mit einer Inflation von 4,4%. Auch die Langfristprognose der EZB von unter 2% im Jahr 2024 halte ich für zu niedrig.

Die EZB setzt ihre Hoffnung sehr stark darauf, dass keine gefährliche Lohn-Preis-Spirale in Gang kommt. Liegt sie damit richtig oder unterschätzt sie die Gefahr?

Die Arbeitnehmer haben durch die Inflation massive Kaufkraftverluste erlitten. Es wäre merkwürdig, wenn die Gewerkschaften nicht deutlich höhere Lohnforderungen stellen und auch durchsetzen würden, zumal die Arbeitslosigkeit im Euroraum so niedrig ist wie noch nie seit Einführung des Euro. Auch die Unternehmen, mit denen die EZB regelmäßig spricht, erwarten ein Anziehen des Lohnwachstums. Die Zeiten äußerst niedriger Lohnabschlüsse gehören erst einmal der Vergangenheit an.

Geht es aus Ihrer Sicht jetzt nur um eine Normalisierung der Geldpolitik, also vor allem ein Ende von Sondermaßnahmen wie den An­leihekäufen, oder braucht es eine wirkliche Straffung mit deutlich steigenden Zinsen, um die Inflation aktiv herunterzubringen?

Mit dem Beenden der Nettoanleihekäufe wird es nicht getan sein – auch nicht mit der von uns für dieses Jahr erwarteten Erhöhung des Einlagensatzes von –0,5% auf 0,0%. Die EZB muss wegen der gestiegenen Inflationsrisiken mindestens auf eine neutrale Geldpolitik einschwenken. Der damit kompatible Leitzins liegt sicher nicht bei 0,0%, sondern eher bei 2,5%.

Einige Euro-Notenbanker argumentieren, dass es im Zweifelsfall besser sei, die Geldpolitik etwas zu spät zu straffen statt zu früh. Wie beurteilen Sie diese Einschätzung?

Ich halte das für falsch. Die Inflation steigt zunehmend auf breiter Front. Es geht schon lange nicht mehr nur um steigende Preise für Energie. Je länger die EZB wartet, desto mehr steigen die Inflationserwartungen der Menschen und desto eher schrauben die Gewerkschaften ihre Lohnforderungen hoch. Jetzt ist rasches Gegensteuern erforderlich. Die angelsächsischen Zentralbanken zeigen, wie es geht.

So mancher Beobachter befürchtet bereits, dass es die Fed oder auch die Bank of England mit der Straffung jetzt übertreiben könnten. Ist das eine berechtige Sorge?

Nein. Die US-Wirtschaft ist doch überhitzt. Die Arbeitslosenquote liegt bei nur 4,0%. Auf einen Arbeitslosen kommen rechnerisch 1,7 offene Stellen. Der Anstieg der Arbeitskosten hat sich massiv beschleunigt. Außerdem ist die Inflation mit 7,5% so hoch wie zuletzt 1982, wobei die Verbraucherpreise auf breiter Front anziehen. Hier ist Gefahr in Verzug. Das für März in Aussicht gestellte Einstellen der Nettoanleihekäufe und die Erhöhung der Leitzinsen sind überfällig.

Als Argument gegen eine rasche EZB-Zinswende wird immer wieder angeführt, dass die EZB auch 2008 oder 2011 mit Zinserhöhungen falsch gelegen habe und daraus Lehren ziehen müsse. Ist der Einwand berechtigt?

Ich wundere mich, wie manche Beobachter diese beiden Zinserhöhungen als dramatische Fehlentscheidungen hochstilisieren. Die EZB hatte damals doch gute Gründe für die höheren Leitzinsen – schließlich war die Inflation im Vorfeld deutlich gestiegen. Als dann im Herbst 2008 Lehman Brothers zusammenbrach und 2011 die Staatsschuldenkrise ausbrach, hat die EZB ihre Zinsen ja wieder gesenkt. Ich sehe da kein Problem.

Vor allem in Deutschland nimmt die Kritik an der EZB wieder deutlich zu. Wie gefährlich ist das für die Notenbank und auch für den Euro?

Die Inflation ist in den zurückliegenden Monaten massiv gestiegen, obwohl die EZB das Thema Inflation vorher kleingeredet hat. Trotzdem kauft sie weiter in großem Stil Anleihen und hält ihren Einlagensatz bei –0,5%, als müsse sie weiter Deflation bekämpfen. Da ist es doch verständlich, dass Kritik aufkommt. Ich halte sie auch für berechtigt, sofern sie sachlich und zielorientiert formuliert ist. Im Übrigen hat die EZB ja auf die Kritik reagiert und eine geldpolitische Wende in Aussicht gestellt. Gefährlich würde es mit Blick auf ihre Glaubwürdigkeit nur, wenn sie diesen notwendigen Schritt auf die lange Bank schöbe.

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