Im Interview:Tobias Adrian, IWF

„Bei einem Vertrauensverlust ist niemand immun“

Die Unsicherheit in der Weltwirtschaft, im Finanzsystem und an den Märkten ist so groß wie selten. Im Interview schätzt Tobias Adrian, Leiter der Kapitalmarktabteilung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und damit oberster Berater von IWF-Chefin Kristalina Georgiewa in Finanz- und geldpolitischen Fragen, die Lage ein.

„Bei einem Vertrauensverlust ist niemand immun“

Im Interview: Tobias Adrian

„Bei einem Vertrauensverlust ist niemand immun“

Der IWF-Kapitalmarktchef über die hartnäckige Inflation, weitere Zinserhöhungen, Risiken im Bankensektor und den US-Schuldenstreit

Die Unsicherheit in der Weltwirtschaft, im Finanzsystem und an den Märkten ist so groß wie selten. Im Interview schätzt Tobias Adrian, Leiter der Kapitalmarktabteilung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und damit oberster Berater von IWF-Chefin Kristalina Georgiewa in finanz- und geldpolitischen Fragen, die Lage ein.

Herr Adrian, was macht Ihnen aktuell mehr Sorge, was ist die größere Gefahr – die weiter zu hohe Inflation oder die Turbulenzen im Bankensektor?

Die hohe Inflation und der Stress im Bankensektor sind sehr eng miteinander verbunden. Die Probleme der Banken rühren nicht zuletzt daher, dass die Zentralbanken wegen der hohen Inflation ihre Leitzinsen mit einem Tempo und in einem Ausmaß erhöht haben wie seit Jahrzehnten nicht. Wie es jetzt bei den Banken weitergeht, hängt deshalb sehr stark davon ab, was auf Inflationsseite passiert. Wenn die Inflation deutlich sinkt und die Zentralbanken weniger aggressiv vorgehen müssen, ist das gut für die Finanzstabilität. Wenn es bei der Inflation noch böse Überraschungen gibt und die Zentralbanken die Leitzinsen stärker anheben müssen als gedacht, kann es neuen Stress und Druck auf das Finanzsystem geben.

Dann lassen Sie uns doch zunächst bei der Inflation bleiben: Weltweit geht die Inflation zurück, aber der zugrundeliegende Preisdruck ist hoch, wie sich an der Kerninflation ohne Energie und Lebensmittel zeigt. Ist das Inflationsproblem noch größer als gedacht?

Es gibt einige ermutigende Signale. In den USA geht neben der Gesamtinflation auch die Kerninflation etwas zurück. Im Euroraum bleibt das bislang aus, die Kernrate verharrt nahe ihrem Rekordhoch. Der Inflationsdruck kommt nun vor allem von zwei Seiten: Das sind zum einen die Dienstleistungen, weil die Nachfrage weiter recht stark ist. Und da sind zum anderen die Löhne. Das Lohnwachstum nimmt spürbar zu. Unter dem Strich ist klar: Die Inflation ist extrem hartnäckig und der Kampf noch lange nicht gewonnen.

Wie groß schätzen Sie denn die Gefahr ein, dass sich die Inflationserwartungen noch vom verbreiteten Zielwert von 2% lösen, also „entankern“, und es eine Lohn-Preis-Spirale gibt? Nicht zuletzt in Deutschland gab es zuletzt einige hohe Tarifabschlüsse.

Bei der Verankerung stehen normalerweise die mittel- und langfristigen Erwartungen an den Finanzmärkten im Fokus. Diese sind relativ stabil, in den USA, in Europa und in den meisten Ländern der Welt. Das ist positiv. Kurzfristig sind die Erwartungen aber sehr hoch. Und was wichtig ist: Die Inflationserwartungen der privaten Haushalte sind erheblich höher als jene an den Märkten. Und das hat Einfluss auf das Konsumverhalten und Investitionsverhalten sowohl von Verbrauchern als auch von Unternehmen. Unsere Analysen zeigen, dass die Erwartungen der Haushalte eine hohe Relevanz für die künftige Inflationsentwicklung haben. Das dürfen Zentralbanken nicht unterschätzen.

Sie dürfen sich also nicht in Sicherheit wiegen?

Es könnte sein, dass die Inflation noch etwas länger höher bleibt und dass die Zentralbanken dann mehr machen müssen, als zurzeit von den Märkten eingepreist wird. Für die Zentralbanken geht es jetzt auch um ihre Glaubwürdigkeit. Sie müssen weiter entschlossen gegen die Inflation vorgehen und dürfen nicht zu früh nachlassen. Die Vergangenheit lehrt: Wenn die Inflationserwartungen einmal außer Kontrolle geraten sind, ist es extrem kostspielig, das wieder zurückzudrehen.

Sind die Marktteilnehmer zu optimistisch, was einen raschen Rückgang der Inflation Richtung 2% betrifft?

Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass sich die Inflation in Richtung des Inflationsziels von 2% bewegt. Aber es gibt enorme Risiken und es wird in jedem Fall dauern. Die Märkte gehen von einer relativ schnellen Rückkehr zu 2% aus. Sie setzen darauf, dass die Abkühlung der Realwirtschaft die Inflation drückt. Aber bei dem Zusammenhang gibt es große Unsicherheit. Wenn man sieht, dass in Europa die Aktienmärkte seit Jahresbeginn um fast 15% zugelegt haben, muss man sich fragen, ob das zur aktuellen Lage passt. Ich wäre nicht überrascht, wenn es bei den Bewertungen an den Aktienmärkten absehbar spürbare Korrekturen gibt.

Sie haben einen möglichen weiteren Handlungsbedarf der Zentralbanken angesprochen. Ist es im aktuellen Umfeld jetzt besser, die Geldpolitik zu viel zu straffen als zu wenig zu tun?

Beide Szenarien bergen Risiken und haben Kosten. Wenn die Zentralbanken zu viel tun, lösen sie vielleicht eine Rezession aus, die nicht unbedingt sein müsste. Wenn sie aber nicht genug tun, besteht die Gefahr, dass die Inflation nicht weggeht und dass die Inflationserwartungen auch mittel- und längerfristig anziehen. Da die exakt richtige Balance zu finden, ist auf jeden Fall schwierig. Aber mit Blick auf die Hartnäckigkeit der Inflation besteht meines Erachtens eine große Wahrscheinlichkeit, dass die Zinsen noch weiter ansteigen müssen. Die Märkte könnten da durchaus noch mal überrascht werden in den nächsten Monaten.

Gilt das auch für die US-Notenbank? Die Fed hat signalisiert, dass sie nach Zinserhöhungen um insgesamt 500 Basispunkte seit März 2022 nun eine Pause einlegen könnte – was viele Beobachter als Ende im aktuellen Zinszyklus interpretieren.

In den USA sinkt auch die Kerninflation bereits seit einigen Monaten. Zudem gibt es mehr Anzeichen, dass sich zumindest einige Wirtschaftssektoren abkühlen. Das Bild ist da ein anderes als in Europa. Zudem hat die Fed ihren Leitzins früher und stärker erhöht als die EZB. Die Fed kann nun erst einmal die weitere Entwicklung abwarten, aber sie muss weiter auf der Hut sein. Womöglich ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Ist in den USA eine Rezession noch zu vermeiden? Viele Beobachter zweifeln.

Die US-Wirtschaft schwächt sich bereits ab und als IWF erwarten wir, dass sich diese Abschwächung fortsetzt. Aber wir prognostizieren keine Rezession. Eine sanfte Landung ist weiter gut möglich.

Aber die Europäische Zentralbank (EZB) muss bei den Zinsen noch nachlegen?

Die Zinsen sind in Europa noch deutlich niedriger als in den USA – obwohl die Inflationsraten vergleichbar sind. Der Realzins, also der Nominalzins abzüglich der Inflation, liegt damit im Euroraum immer noch sehr niedrig, wahrscheinlich ist er noch negativ. Das würde auch erklären, warum die gesamtwirtschaftliche Nachfrage weiter recht stark ist. Diese wird jetzt langsam schwächer, aber es ist etwas erstaunlich, wie lange das gedauert hat. Die EZB hat also wohl noch eine Wegstrecke vor sich und muss ihre Leitzinsen weiter anheben. Aber das ist genau das, was sie in Aussicht gestellt hat.

Hat sich durch die strukturellen Veränderungen in der Wirtschaft infolge der Krisen auch die Übertragung, die Transmission der Geldpolitik verändert? Braucht es jetzt stärkere Zinserhöhungen als früher, um die wirtschaftliche Aktivität und die Inflation zu dämpfen?

Das würde ich nicht sagen. Die Finanzierungsbedingungen der Banken verschlechtern sich bereits und das wird über die Kreditvergabe Spuren in der Realwirtschaft hinterlassen. Eine zweite Transmission geht über die Finanzierungskonditionen an den Finanzmärkten. Die haben sich bislang nicht stark verschlechtert. Wie gesagt, viele Aktienbewertungen sind immer noch erstaunlich hoch.

Zuletzt haben auch wieder Forderungen zugenommen, die Inflationsziele von 2% einfach anzuheben, auf 3% oder 4%. Was sagen Sie dazu?

Diese Idee wird immer wieder ventiliert, aber ich halte davon nichts. Jetzt an den Inflationszielen herumzudoktern, würde einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen, der die Glaubwürdigkeit der Zentralbanken nachhaltig schwächen würde.

Kommen wir zum zweiten großen Themenkomplex aktuell – den Turbulenzen im Bankensektor, vor allem in den USA. Droht in den USA sogar eine regelrechte Kreditklemme?

Das Bankgeschäft basiert auf Glaubwürdigkeit und Vertrauen. In den USA ist dieses Vertrauen in die Banken nun teilweise verloren gegangen, weswegen Kunden in großem Stil Einlagen abgezogen haben. Die US-Notenbank und die US-Einlagensicherung mussten sehr aggressiv intervenieren, um das Vertrauen wieder zu stärken. Bei den kleineren Banken ist das bis heute nicht komplett gelungen. Die Kreditvergabe wird weiter Federn lassen, eine regelrechte Kreditklemme erwarten wir aber nicht.

Und wo lauern dann die größten Gefahren – am US-Immobilienmarkt?

Der Markt für Gewerbeimmobilien steht aktuell besonders im Fokus. Er steht durch den Trend zum Homeoffice ohnehin strukturell stark unter Druck. Nun kommt auch noch der konjunkturelle Abschwung hinzu: Die Zinsen gehen rauf, die Nachfrage geht runter.

Droht denn auch noch eine Ansteckung der Großbanken in den USA?

In den USA gibt es zurzeit ein sehr starkes Vertrauen in die Großbanken. Sie verfügen über sehr viel mehr Eigenkapital und mehr Liquidität, und für sie gibt es auch strenge Stresstests. Aber man weiß nie, wie sich die Situation weiterentwickelt. Da gilt es sehr wachsam zu sein.

Droht womöglich auch noch ein Überschwappen nach Europa?

In Europa ist die Situation besser, weil die Regulierung konsequenter ist und Basel III auch auf kleine Banken angewendet wurde, und weil die Zinsen noch nicht so angestiegen sind. Zudem besitzen Europas Banken weniger Wertpapiere und die Wertpapiere, die sie besitzen, haben normalerweise kürzere Laufzeiten. Aber es ist nicht auszuschließen, dass es auch in Europa noch einen gewissen Stress bei den Banken geben könnte. Das gilt umso mehr, falls die EZB ihre Leitzinsen stärker anheben müsste als eingepreist. Bei einem breiten Vertrauensverlust ist niemand ganz immun.

Eine Wiederholung der Weltfinanzkrise von 2008 befürchten Sie aktuell nicht?

Ich wäre überrascht, wenn sich die Krise jetzt zu einer globalen Krise ausweitet. Es gibt drei große Unterschiede: Es gibt noch nicht so hohe Kreditverluste; die bisherigen Verluste sind eher Zinsverluste. Zudem verfügen die Banken über viel mehr Kapital als 2008. Und drittens gibt es die Investmentvehikel, die vor 2008 für regulatorische Arbitrage genutzt wurden, in dem Ausmaß nicht mehr heute.

Hat auch die Regulierung versagt? Eigentlich hatte die auch zum Ziel, dass auch eine große Bank abgewickelt werden kann. Die Credit Suisse wurde nun aber mit der UBS zwangsfusioniert.

Ich denke, dass dieses Mal vieles sehr viel besser gelaufen ist als vor 15 Jahren. Damals ist viel staatliches Geld in die UBS gesteckt worden, insbesondere in Form von frischem Kapital. Die Eigentümer der UBS haben damals kaum Verluste gemacht, es war ein Bail-out. Das ist nun anders. Es stimmt, dass die Credit Suisse nun nicht abgewickelt worden ist. Aber die jetzige Fusion hätte auch im Abwicklungsregime vollzogen werden können. Die Politik in der Schweiz meinte, dass es besser sei, das außerhalb dieses Regimes zu machen. Ich würde aber sagen, man kann auch eine große Bank abwickeln. Die Aktienwerte von der Credit Suisse wurden dramatisch abgeschrieben und die AT1-Besitzer haben den Wert voll abgeschrieben bekommen.

Ein weiteres großes Thema ist derzeit der Streit über das US-Schuldenlimit. Ist das der übliche politische Zank, der am Ende in einem Kompromiss endet, oder ist die Gefahr dieses Mal größer, dass es zum Schlimmsten kommt – einem Zahlungsausfall der USA?

Im Vergleich zu 2011 oder 2013 ist die politische Lage jetzt schwieriger, weil sehr zugespitzt. Ich hoffe und setze auf einen guten Ausgang, aber die Risiken sind dieses Jahr sehr groß. Es besteht die reale Gefahr, dass es dieses Mal nicht gut ausgeht. Und allein das ist schon ein großes Problem für die Finanzstabilität, weil es zu mehr Volatilität führt.

Kann man sich überhaupt ausmalen, was passieren würde, wenn die USA zahlungsunfähig werden würden?

Ich möchte da gar nicht spekulieren. Aber klar ist: Der Dollar und die US-Staatsanleihen sind von zentraler Bedeutung für die globalen Kapitalmärkte. Wenn das Risse bekäme, hätte das sehr gravierende Konsequenzen für das globale Finanzsystem und für die Weltwirtschaft insgesamt. Deswegen kann man nur an die Vernunft aller Beteiligten appellieren: Es darf einfach nicht zum Äußersten kommen.

Die Finanzmärkte sind bislang erstaunlich gelassen.

Die Marktteilnehmer sollten die Risiken nicht unterschätzen. Ich habe aber schon von verschiedensten Marktteilnehmern gehört, dass sie bereits an Szenarien sitzen für den Fall der Fälle. Das ist sinnvoll.

Das Interview führte Mark Schrörs.