Geldpolitik

Türkische Zentralbank macht Analysten fassungslos

Trotz 20 Prozent Inflation und historisch schwacher Lira senkt die türkische Zentralbank den Leitzins zum wiederholten Male. Die Währungskrise in der Türkei verschärft sich. Beobachter sind ratlos.

Türkische Zentralbank macht Analysten fassungslos

rec Frankfurt

Die türkische Zentralbank hat mit einer weiteren Zinssenkung inmitten einer Währungskrise einmal mehr für harsche Reaktionen von Devisenhändlern und Analysten gesorgt. Beobachter quittierten die Entscheidung, den Leitzins um 1 Prozentpunkt auf 15% zu senken, mit einer Mischung aus Rat- und Fassungslosigkeit. Die Landeswährung befindet sich im freien Fall und stürzte um bis zu 6% zum Dollar, der inzwischen mehr als 11 Lira kostet.

Timothy Ash, Schwellenländerexperte des britischen Vermögensverwalters Bluebay Asset Management, nannte den Schritt „schlichtweg verrückt“. So äußerte sich auch Win Thin, Devisenexperte von Brown Brothers Harriman Co. in New York, und fügte hinzu: „Schlechter als der argentinische Peso – das ist mal eine Ansage.“ Nirgendwo hat die Währung dieses Jahr so stark abgewertet wie in der Türkei. Andere sprachen von einem rein politisch motivierten Beschluss, nachdem Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan tags zuvor auf niedrige Zinsen gedrängt hatte. Erdogan hat wiederholt unfolgsame Zentralbanker gefeuert.

Erste Ökonomen mahnen nun, dass Turbulenzen in der Türkei wieder auf andere Schwellenländerwährungen übergreifen könnten. Die Ansteckungsrisiken gelten diesmal indes als deutlich geringer. Das liegt wesentlich daran, dass die Zentralbanken in etlichen Schwellenländern in starkem Kontrast zur Türkei teils aggressiv die Zinsen erhöht haben, um die Inflation zu kontrollieren und Abwertungswettläufe zu vermeiden.

Experten ziehen vermehrt Parallelen zur Krise im August 2018, die die Zentralbank schließlich mit einer Zinserhöhung stoppte. Robin Brooks, Chefökonom des internationalen Bankenverbands IIF, macht auf einen Unterschied aufmerksam: Die Währungskrise 2018 sei geopolitischen Ursprungs gewesen. „Diesmal geht es um Zinssenkungen, was bedeutet, dass die Zentralbank die Macht hat, den Ausverkauf zu stoppen“, sagte Brooks. Nötig sei ein Ende der Zinssenkungen. Das stellten die Notenbanker nun allerdings frühestens für Dezember in den Raum. Nicht wenige Ökonomen halten diese Erwägung für ein Lippenbekenntnis. Das dürfte die Inflationssorgen angesichts einer anhaltend hohen Teuerungsrate von knapp 20% befeuern und auch die Landeswährung weiter unter Druck setzen.

Die Lira hat binnen eines Dreivierteljahres mehr als 35% an Wert verloren, seit sich ihr Kurs zum Dollar im Zuge von Zinserhöhungen auf 19% zwischenzeitlich stabilisiert hatte (siehe Grafik). Das sorgt für Spekulationen, die Situation könnte nicht nur für den türkischen Bankensektor, sondern auch für die Unternehmen des Landes zu einer Belastung werden. Hintergrund ist, dass türkische Firmen vergleichsweise hoch in Fremdwährungen verschuldet sind. Nach Berechnungen von Dennis Shen von der Ratingagentur Scope belaufen sich diese Verbindlichkeiten im Privatsektor netto auf 124 Mrd. Dollar. Vor dem Zinsentscheid hatte der größte türkische Wirtschaftsverband Tüsiad der Zentralbank ins Gewissen geredet, ihre Hauptaufgabe, die Inflation in Schach zu halten, nicht zu vergessen.

Die Zentralbank des Landes hält nur einen Bruchteil dieser Summe als Fremdwährungsreserven. Abzüglich von Devisentauschgeschäften mit anderen Zentralbanken sind die Nettoreserven des Landes sogar negativ. Die Notenbank hat in der Vergangenheit zunächst mit dem Verkauf von Devisenreserven versucht, den Kurs der Lira zu stabilisieren. Zu Zinserhöhungen griff sie lediglich als Ultima Ratio. Ein solches Szenario scheint nun wieder denkbar. Scope-Experte Shen sagte der Börsen-Zeitung, es werde nun entscheidend sein zu beobachten, „inwieweit die Regierung auf schlechte Gewohnheiten zurückgreift, das heißt, ob der Staat zur Verteidigung der Währung auf Devisenreserven zurückgreift“.

Die türkische Wirtschaft könnte in diesem Jahr nach Schätzungen von Ökonomen bis zu 10% wachsen. Sie verzeichnete im Jahr 2020 als eine von sehr wenigen Volkswirtschaften weltweit trotz Coronakrise ein Plus – befeuert von einem Kreditboom. Wirtschaftsvertreter berichten nun, Firmen hätten wegen der Währungs- und Inflationsturbulenzen Schwierigkeiten, an Kredite zu kommen.

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