Mehrheit erst im zweiten Wahlgang

Wirtschaft entsetzt über Merz-Denkzettel

Ökonomen, Analysten und Vertreter der Wirtschaft schauen besorgt auf den holprigen Start der neuen Bundesregierung. Die Hoffnung auf wirtschaftspolitische Reformen bekam einen empfindlichen Dämpfer, nachdem Friedrich Merz (CDU) die Wahl zum Bundeskanzler im ersten Anlauf verfehlt hatte.

Wirtschaft entsetzt über Merz-Denkzettel

Wirtschaft entsetzt über Merz-Denkzettel

Mindestens 18 Abweichler im ersten Kanzler-Wahlgang im Bundestag – Sorgen um Stabilität der schwarz-roten Koalition

Ökonomen, Analysten und Vertreter der Wirtschaft schauen besorgt auf den holprigen Start der neuen Bundesregierung. Die Hoffnung auf wirtschaftspolitische Reformen bekam einen empfindlichen Dämpfer, nachdem Friedrich Merz (CDU) die Wahl zum Bundeskanzler im ersten Anlauf verfehlt hatte.

ahe Berlin

CDU-Chef Friedrich Merz ist im Bundestag erst im zweiten Wahlgang zum Bundeskanzler gewählt worden. Im ersten Wahlgang war der neue Regierungschef noch spektakulär gescheitert – was ein Novum bei einer Kanzlerwahl in der Bundesrepublik war. Bislang hatte Deutschland nur in den Bundesländern Erfahrung mit solchen Ablehnungen.

Von 630 anwesenden Abgeordneten wurden am Dienstagvormittag im ersten Wahlgang 621 Stimmen abgegeben. Bei einer ungültigen Stimme stimmten nur 310 Stimmen für Merz. Nötig wären 316 für die Kanzlermehrheit gewesen. Die schwarz-rote Koalition verfügt über 328 Stimmen. Damit gab es mindestens 18 Abweichler in Reihen von Union und SPD. Wer Merz die Stimme verweigerte, bleibt wegen der geheimen Wahl unklar. Union und SPD hatten vor der Sitzung angegeben, dass ihre Abgeordneten komplett anwesend seien.

Zweiter Versuch am Nachmittag

Während aus der AfD schnell Rufe nach einer Neuansetzung der Bundestagswahl kamen, einigten sich Union, SPD, Grüne und Linke auf einen zweiten Kanzler-Wahlgang noch für den Dienstagnachmittag. In diesem gab es dann mit 325 Ja-Stimmen die nötige Mehrheit für Merz. Mit Nein stimmten 289 Abgeordnete, drei Stimmen waren ungültig. Es gab eine Enthaltung. Der neue Unions-Fraktionschef Jens Spahn hatte die Abgeordneten zuvor auch noch einmal eindringlich zur Disziplin aufgerufen: „Ganz Europa, vielleicht die ganze Welt schaut auf diesen Wahlgang“, sagte Spahn. „Ich appelliere an alle, sich dieser besonderen Verantwortung bewusst zu sein.“

Scharfe Reaktionen auf das Debakel im ersten Wahlgang kamen von Ökonomen, Analysten und aus der Wirtschaft. Das Ergebnis der Abstimmung rufe in Erinnerung, wie schmal die Mehrheit der neuen Koalition sei, was die Hoffnungen auf durchgreifende wirtschaftspolitische Reformen weiter dämpfe, erklärte Bernd Weidensteiner, Senior Economist der Commerzbank. Jan Holthusen, Chef des Researchs der DZ Bank, sprach von einem „kapitalen Fehlstart“ der neuen Koalition. „Inmitten der Zoll-Wirren der USA und vor dem Hintergrund des andauernden Krieges Russlands gegen die Ukraine ist dieser Tag ein verheerendes Signal nach innen und nach außen.“

„Einfach nur bescheuert“

Ähnlich äußerte sich der Präsident des Digitalverbands Bitkom, Ralf Wintergerst, der darauf verwies, dass Deutschland und Europa vor historischen Herausforderungen stehen – wirtschaftlich, gesellschaftlich und geopolitisch. „Es ist ein Tiefpunkt in der Geschichte des Bundestags, wenn die demokratische Mitte des Parlaments in einer solchen Situation nicht bereit und in der Lage ist, sich auf eine neue Regierung zu einigen“, kritisierte Wintergerst. Dieser Denkzettel sei „einfach nur bescheuert", ergänzte der Hauptgeschäftsführer des Chemieverbands VCI, Wolfgang Große Entrup. „Da haben einige die politischen Auswirkungen nicht im Ansatz verstanden.“  

„Verheerendes Signal“

Auch aus den großen Wirtschaftsdachverbänden kamen deutliche Reaktionen: Der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Peter Adrian, sprach von einem verheerenden Signal und einer denkbar schlechten Nachricht für die Wirtschaft. „Statt Klarheit herrscht weiter Unsicherheit. Die dringend benötigte Stabilität lässt weiter auf sich warten.“ Die Wirtschaft könne sich keine lange Hängepartie leisten, monierte er vor dem zweiten Wahlgang.

Spätere Übergabe der Ministerien

Die für Dienstagnachmittag eigentlich geplanten Übergaben der Ministerien wurden auf den Mittwoch verschoben. Auch die Übergabe des Kanzleramts verzögerte sich durch den nötigen zweiten Wahlgang. Sie ist auf den späteren Abend terminiert worden. Am Mittwoch will Merz bereits zu seiner ersten Kanzlerreise nach Paris und Warschau aufbrechen.


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