Großbritannien

Das große Tauziehen

Steuersenkungen sind eine gute Sache. Doch der britische Schatzkanzler muss erklären, wo er Ausgaben kürzen will. Sonst steht die Glaubwürdigkeit der Regierung auf dem Spiel.

Das große Tauziehen

Großbritannien hat einen radikalen wirtschaftspolitischen Kurswechsel vollzogen. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass dort die mittlerweile vierte konservative Regierung in Folge am Ruder ist. Schatzkanzler Kwasi Kwarteng will nicht nur die Steuer- und Abgabenerhöhungen seines Vorgängers rückgängig machen. Er setzt auf schuldenfinanziertes Wachstum und lässt sich dabei nicht von Technokraten und Experten hineinregieren, denen bislang viel Gehör geschenkt wurde. Umverteilung ist kein Thema mehr, davon zeugt die Abschaffung des von Gordon Brown eingeführten Spitzensteuersatzes. Das hat sich keine der Vorgängerregierungen getraut, obwohl die höhere Besteuerung der Großverdiener nur einen geringfügigen Beitrag zum Steueraufkommen insgesamt leistete. Den unabhängigen Haushaltswächtern des Office for Budget Responsibility gab Kwarteng vorab keine Gelegenheit, die finanzielle Nachhaltigkeit seiner Vorhaben zu prüfen. Die Finanzmärkte behutsam auf kommende Veränderungen einzustimmen, ist seine Sache nicht. Mit Andrew Bailey, dem Gouverneur der Bank of England, liegt er über Kreuz. Ein großes Tauziehen zeichnet sich ab – zwischen Notenbank und Schatzamt, zwischen Thatcheristen und Sozialliberalen in der Tory-Fraktion. Der Kulturkampf, der das Land seit dem EU-Referendum 2016 im Griff hat, setzt sich darin fort.

Bond-Vigilanten und Währungsspekulanten nahmen das Thema dankbar auf. Anfang der Woche rutschte das Pfund auf den tiefsten Stand gegen den Dollar seit dessen Einführung im April 1792. Sollte der Kurs unter die Parität fallen, drohen bereits einige parteiinterne Gegner der neuen Regierung damit, im Unterhaus gegen deren Maßnahmen zu stimmen. Auch über eine außerordentliche Leitzinserhöhung der Notenbank und den Verkauf von Währungsreserven zur Stützung des Wechselkurses wird munter spekuliert. Das dürfte Marktteilnehmer dazu verleiten, einmal auszutesten, ob es wirklich dazu kommt. So mancher wird sich dabei eine blutige Nase holen, denn diese Regierung ist nicht geneigt, sich auf diese Weise einschüchtern zu lassen. Die Bank of England ist es irgendwann vielleicht, was dazu führen könnte, dass das Knirschen im Getriebe lauter wird. Bailey warnte bereits, die Unabhängigkeit von Notenbank und Bankenaufsicht sei in Gefahr. Der Schatzkanzler wies den Notenbankchef in einem Schreiben darauf hin, dass die rasante Teuerung nicht allein auf den Krieg in der Ukraine zurückgeht – ein Hinweis darauf, dass er die Deutungshoheit nicht den Zentralbankökonomen überlassen wird. Bailey hatte zuvor keinerlei Selbstkritik erkennen lassen, weder was die schlafmützige Reaktion der Geldpolitiker auf den Preisauftrieb angeht noch mit Blick auf die Gelddruckorgien der vergangenen Jahre.

Die Aufgeregtheit, mit der Kwartengs Stimuli in der Öffentlichkeit aufgenommen worden sind, entspricht nicht ganz dem tatsächlichen Ausmaß der Steuererleichterungen. Es mag zwar stimmen, dass es sich um die umfassendste Entlastung seit 50 Jahren handelt. Doch besteht sie größtenteils daraus, von seinem Vorgänger Rishi Sunak durchgesetzte Erhöhungen wieder rückgängig zu machen oder gar nicht erst in Kraft zu setzen. Es ist also etwas übertrieben, wenn Bill Clintons Finanzminister Larry Summers die Herangehensweise mit der Praxis von Schwellenländern vergleicht. Das Problem von Kwarteng ist, dass man mit einem kleineren Steueraufkommen die enormen Staatsausgaben nicht stemmen kann, die durch die Deckelung der Energiepreise weiter aufgebläht werden. Die Ausgabenpolitik der Vorgängerregierung ließe sich wie folgt zusammenfassen: Sag niemals nein. Die Pandemie sorgte für enorme Kosten, und Boris Johnson gefiel sich in der Rolle des „Big Spender“. Bislang haben sich Premierministerin Liz Truss und ihr Schatzkanzler nicht dazu geäußert, an welcher Stelle sie die Ausgaben reduzieren und vom Staat übernommene Aufgaben wieder abgeben wollen. Das wäre als vertrauensbildende Maßnahme dringend nötig, um die Inflationserwartungen im Griff zu behalten.

Bailey sollte eigentlich mit der neuen Regierung zufrieden sein. Andere Notenbanker entwickelter Volkswirtschaften würden sich freuen, wenn ihre Politiker auf eine wachstumsfreundlichere Herangehensweise umsteigen würden, um die dämpfenden Auswirkungen steigender Zinsen abzufedern. Kwarteng wird aber deutlich nachlegen müssen. Die Senkung des Eingangssteuersatzes um einen Prozentpunkt wird kaum reichen, um das Wachstum anzufeuern. Großbritannien benötigt mehr Investitionen und eine höhere Produktivität. Deregulierung ist eine gute Strategie. Der Widerstand dagegen wird allerdings erheblich sein.

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