Unterm Strich

Die EZB bleibt hinter der Kurve

Die EZB tut sich schwer, bei der Inflationsbekämpfung ihre inzwischen verschärfte Rhetorik mit den nötigen geldpolitischen Schritten zu begleiten.

Die EZB bleibt hinter der Kurve

Erinnern Sie sich? „Die Inflation ist tot“, so lautete die gewagte These etlicher Ökonomen im zu Ende gehenden Jahr 2020, darunter bekannte Namen wie Thomas Straubhaar. Selbst die Frage auf dem Titel des „Economist“ im Dezember 2020 „Wird die Inflation zurückkehren?“ war eine rhetorische und wurde dahingehend beantwortet, dass die meisten Ökonomen das nicht erwarteten.

An den Märkten gilt eine Milchmädchenhausse als Hinweis auf eine bevorstehende Korrektur oder gar einen Crash. In der Währungspolitik scheint es ähnlich zu sein: Wenn fast alle Experten derselben Meinung sind – dass nämlich die Inflation tot sei -, steht ihre Wiedergeburt kurz bevor. Die Ursache der Fehleinschätzung mochte nach Jahren eher deflatorischer Risiken eine gewisse „rationale Unaufmerksamkeit“ gegenüber den Inflationsgefahren sein. Dies schlug sich auch in den Prognosemodellen der Geldpolitiker nieder, die auf historische Konjunkturmuster geeicht sind. Entsprechend schwer taten sie sich, die externen Schocks und ihre Wirkung auf die Inflation rechtzeitig zu erkennen.

Zwar glaubt auch EZB-Präsidentin Christine Lagarde nicht mehr, dass es sich bei der Inflation um ein vorübergehendes Phänomen handelt. Am vergangenen Donnerstag sprach sie nach der Zinsentscheidung sogar von einer langen Reise, auf der noch weitere Zinserhöhungen um 50 Basispunkte folgen könnten, um die Inflation wieder in Richtung des 2-Prozent-Ziels zu drücken. Doch im Handeln bleibt die EZB weit hinter ihrer verbalen Entschlossenheit zurück. Zwar ist auch die Ankündigung weiterer Zinserhöhungen von Bedeutung, um die enteilende Inflationserwartung wieder zu verankern. Doch bis die in Aussicht gestellten Erhöhungen um jeweils 50 Basispunkte den Realzins in den positiven Bereich und auf Höhe des natürlichen Zinses heben, wird es noch lange dauern. Die jetzt von EZB-Präsidentin Lagarde genannten Inflationsprognosen gehen von 6,3% im Jahresdurchschnitt 2023 aus, von 3,4% im Jahr 2024 und 2,3% im Jahr 2025.

Warum die EZB geldpolitisch so sehr hinter der Kurve bleibt, auch im Vergleich zu anderen Notenbanken, hat der an der London School of Economics lehrende Ökonom Ricardo Reis schon im Oktober bei einer Veranstaltung im Bundesfinanzministerium in Berlin brillant analysiert. Demnach sind es fünf dominierende Faktoren, die in Konkurrenz zur restriktiven Geldpolitik stehen und die EZB daran hindern könnten, ihr Inflationsziel von 2% schneller zu erreichen.

Erstens: Fehleinschätzungen aufgrund ihrer Prognosemodelle. Die EZB hat Reis zufolge den neutralen Zins über Jahre hinweg zu niedrig angenommen. Deshalb laufe sie Gefahr, jetzt die Höhe der erforderlichen Zinsanpassung ebenfalls zu gering anzusetzen.

Zweitens: Die EZB unterschätzt ihren Glaubwürdigkeitsverlust als Hüterin stabilen Geldes. Die Notenbanker befürchten dagegen heftigen öffent­lichen Gegenwind, wenn sie der Inflationsbekämpfung einen höheren Stellenwert einräumen als der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Nicht ohne Grund wies Lagarde in der Pressekonferenz nach der Zinserhöhung wiederholt darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit in der Eurozone sehr gering, die Beschäftigung historisch hoch sei.

Drittens: die fiskalische Dominanz, das heißt die Rücksichtnahme der Geldpolitik auf die Staatshaushalte und die Verschuldung. Inflation nutzt den Schuldnern. Der politische Druck insbesondere aus Italien und Frankreich gegen eine forsche geldpolitische Straffung könnte deshalb zu einem gemäßigteren Tempo der Zinserhöhungen führen. Trotz inzwischen höherer Inflationsrate als in den USA liegt der Leitzins in der Eurozone um 200 Basispunkte niedriger.

Prinzip Hoffnung

Viertens: der Einfluss der Finanzmärkte. Vor allem seit der Banken- und Finanzkrise sind die Reaktionen der Finanzmärkte auf die Geldpolitik auch für die EZB eine sehr relevante Größe. Unerwartet starke Zinserhöhungen in kurzer Folge erwischen die Marktteilnehmer auf dem falschen Fuß und können zum Risiko für die Finanzstabilität werden. Das war jüngst in Großbritannien zu beobachten, als die Zinserhöhungen der Bank von England etliche Pensionskassen in Nöte brachten. Und in der Eurozone ist zumindest in einigen Ländern das Problem mit Staatsanleihen vollgestopfter Bankbilanzen noch virulent. Steigende Zinsen könnten hoch verschuldete Staaten ins Straucheln bringen, einbrechende Staatsanleihekurse die Banken. Für die EZB wäre eine solche Geldpolitik ein Eigentor. Ihre Verantwortung für die Geldwertstabilität steht im Zielkonflikt mit der Finanzstabilität und der ihr übertragenen Bankenaufsicht.

Fünftens: Rezessionsangst hemmt die Inflationsbekämpfung. Die historische Erfahrung lehrt zwar, dass mit einer scharf restriktiven Geldpolitik und einem „Overshooting“ die Inflation schneller in den Griff zu bekommen ist als mit vielen Trippelschritten. Doch die EZB scheint nach zwei größeren Schritten auf Letzteres umzuschwenken, und zwar in Abhängigkeit von der jeweiligen Datenlage. Lagarde zeigt sich sichtlich bemüht, die unvermeidliche Rezession kleinzureden. Es werde nur eine relativ kurze und milde Rezession Anfang 2023 geben, für das Gesamtjahr erwarte man ein Wirtschaftswachstum von 0,5%. Es herrscht das Prinzip Hoffnung. Denn das richtige Maß der Inflationsbekämpfung hängt von den Ursachen ab. Einen einmaligen Angebotsschock wie gestörte Lieferketten kann die Geldpolitik aussitzen, dauerhafte Verteuerungen wie bei den Energiepreisen aber nicht. Je später und schwächer die Geldpolitik gegensteuert, desto größer wird die Gefahr von Zweitrundeneffekten und entankerten Inflationserwartungen. Nur eine noch schärfere Rezession könnte dann die Inflation wieder in Richtung des EZB-Ziels bringen.

c.doering@boersen-zeitung.de

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