Ein Fitnessprogramm mit Fehlern
Wohl noch nie hat ein Gesetzespaket der EU-Kommission das Potenzial gehabt, die europäische Wirtschaft derart grundlegend und nachhaltig zu verändern wie das Klimaprogramm „Fit for 55“. Es geht hier um nichts weniger als die langfristige Roadmap zur Dekarbonisierung eines Kontinents. In den Brüsseler Plänen, die nun auf dem Tisch liegen, sind auf den ersten Blick auch viele gute Ansätze zu finden: Erstens stimmen die ehrgeizigen Ambitionen, die im Grundsatz ja auch von vielen Unternehmen und in vielen Industriezweigen geteilt werden. Selbst ein Konzern wie RWE sprach bei der Veröffentlichung des „Fit for 55“-Pakets von einem „guten Tag für den Klimaschutz in Europa“. Zweitens stimmt mit der Stärkung des Emissionshandels das gewählte (marktwirtschaftliche) Instrument, mit dem viel zielgenauer als mit ordnungspolitischen Vorgaben oder Obergrenzen das gewünschte Ergebnis erreicht werden kann. Drittens wurden mit dem Gebäude- und Verkehrssektor die richtigen Branchen bestimmt, die künftig ebenfalls einer Kohlenstoff-Preissetzung ausgesetzt werden. Die beiden Bereiche stehen immerhin für rund ein Drittel der CO2-Produktion in Europa. Und viertens gibt es jede Menge flankierende Maßnahmen – angefangen vom Aufbau einer alternativen Lade- und Tankinfrastruktur über soziale Abfederungen, die Neuausrichtung des Energiesteuersystems bis hin zu einer eigenen „Waldstrategie“.
Allerdings ist auch klar, dass sich die Brüsseler Klimapläne nicht nur an Emissionszielen messen lassen müssen, sondern auch an der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa. Es geht hier ja um eine Transformation von Unternehmen und Branchen und nicht um ihre Zerschlagung. Soll der Green Deal wirklich – wie die EU-Kommission hofft – eine Wachstumsstrategie sein, die Europas Fußabdruck in den Zukunftsmärkten stärkt und die das Entstehen Hunderttausender neuer Arbeitsplätze fördert, dann darf sie die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen nie aus dem Auge verlieren. „Fit for 55“ wäre ein großer Irrtum, wenn Europa am Ende des grünen Weges nicht nur dekarbonisiert, sondern auch deindustrialisiert dastehen würde. Entscheidend ist also die richtige Balance, damit das EU-Nachhaltigkeitsprogramm nicht auch zu einer nachhaltigen Schwächung von Wertschöpfung, Wirtschaftskraft und Wohlstand führt. Diese Balance hat das Brüsseler Fitnessprogramm derzeit noch nicht.
Beispiel CO2-Grenzausgleich: Der sogenannte Carbon Border Adjustment Mechanism (CBAM), der zu den Schlüsselprojekten des Pakets gehört, fällt leider unter die Kategorie „gut gedacht ist nicht auch gut gemacht“. Um die heimische Industrie zu schützen und Verzerrungen des globalen Level Playing Field auszugleichen, sollen künftig Importeure von besonders energieintensiven Produkten einen neuen Zoll bezahlen. Doch die Bestimmung des jeweiligen CO2-Fußabdrucks in den Drittstaaten-Lieferketten ist nicht nur bürokratisch und komplex und lädt zu Manipulationen und Greenwashing ein, sondern bietet auch keinerlei Schutz für die wichtige europäische Exportwirtschaft. EU-Unternehmen würden nur auf dem Binnenmarkt geschützt. Außerdem riskiert die EU mit dem international noch völlig unerprobten CBAM Gegensanktionen und neue Handelskonflikte, die die europäische Wirtschaft zusätzlich schwächen werden.
Oder das Beispiel Automobilindustrie: Natürlich geben die neuen CO2-Grenzwerte der Branche jetzt eine langfristige Planungssicherheit, und natürlich gibt es auch Hersteller, die das Ende des Verbrenners auch schon vor 2035 einläuten. Das Problem ist aber, dass die EU-Kommission nur auf die „Auspuff-Emissionen“ schaut und nicht den ganzen Lebenszyklus eines Autos betrachtet. Der Branche wird in der Folge die Elektromobilität vorgeschrieben. Andere Technologieoptionen, andere CO2-freie Kraftstoffe werden nicht mehr genutzt – was nicht nur den Wettbewerb auf dem Binnenmarkt begrenzt, sondern auch die Chancen der Unternehmen auf den globalen Märkten.
Fix ist das „Fit for 55“-Paket der EU-Kommission noch längst nicht. Der jetzt anstehende, rund zweijährige Verhandlungsprozess mit den EU-Mitgliedstaaten und dem Europaparlament dürfte noch ein hartes Ringen um viele Details werden und auch die Chance, die eine oder andere Weiche noch einmal neu zu stellen. Viel wird darauf ankommen, wie sich Deutschland als die größte Industrie- und Exportnation in der EU dabei positioniert. Bei der Bundestagswahl geht es daher auch um den klimapolitischen Kurs Europas.