China

Vor dem schwarzen Loch

Chinas Wirtschaft hat über 30 Jahre hinweg externe Schocks mühelos abgefedert. Gegen die Corona-Politik als hausgemachten Schock ist allerdings kein Kraut gewachsen. 

Vor dem schwarzen Loch

Seit 30 Jahren beschäftigen sich Ökonomen mit der Frage, ob Chinas beispielloser wirtschaftlicher Aufstieg irgendwann einmal auf natürliche Weise austrudelt. Und ob es die berühmte sanfte Landung hinlegt oder aber durch einen heftigen Schock den Boden unter den Füßen weggezogen bekommt. Letzteres ist oft geweissagt worden, wobei man auf einen externen Schock zu tippen geneigt war. Allerdings hat weder die Asienkrise von 1997 noch die globale Finanzkrise von 2008 und auch nicht der Corona-Pandemieschock von Anfang 2020 zu einer nachhaltigen Erschütterung des chinesischen Wirtschaftswunders geführt. Vielmehr wurden die heftigsten Belastungsproben für westliche Industriestaaten und asiatische Schwellenländer wie lästige Fliegen abgeschüttelt. Während es andernorts bisweilen Jahre brauchte, um Rekonvaleszenten wieder auf die Beine zu bringen, schien China meist nach wenigen Wochen bereits wieder topfit auf der Matte zu stehen, um zu wachsen und neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Die Selbstverständlichkeit, mit der es Chinas Wirtschaftsplanern in den letzten drei Jahrzehnten gelungen ist, globalen Krisensituationen die Stirn zu bieten und auch die schwierigsten Herausforderungen zu meistern, macht es umso schwerer verständlich, warum das Land in diesem Jahr in die schwerste Krise seit Anfang der neunziger Jahre hineinzuschlittern droht. Binnen weniger Wochen hat sich die weltweit zweitgrößte Volkswirtschaft mit dem ehrgeizigen Versuch, die gesundheitspolitisch bislang am wenigsten bedenkliche Omikron-Variante des Coronavirus auszurotten, in eine so verfahrene Situation manövriert, dass sie selbst die Vorstellungskraft von professionellen Untergangspropheten im Lager der China-Ökonomen sprengt.

Nach sechs Wochen hartem Lockdown in Chinas führender Handels- und Wirtschaftskapitale Schanghai sind die Ausstrahlungseffekte des dortigen Aktivitätsstillstandes so gewaltig, dass die diesjährige Wachstumsperformance von einem schwarzen Loch verschluckt zu werden scheint. Die Macht des unheimlichen Gravitationsfeldes ist eine durch und durch politische und wird von den Befindlichkeiten eines Staats- und Parteichefs geprägt, die sich selbst Intimkenner der Pekinger Machtzentrale nicht mehr zuverlässig einzuschätzen trauen. Bekannt ist lediglich, dass sich Präsident Xi Jinping auf einen Kurs eingelassen hat, bei dem die Durchsetzung seines politischen Willens und seiner Zielvorstellungen zur Pandemiebekämpfung in einem krassen Missverhältnis zu den offiziell gesetzten diesjährigen Wirtschaftszielen und dem über 30 Jahre hinweg von China so erfolgreich praktizierten ökonomischen Vernunftdenken steht.

China-Anleger, die be­gründ­bare Investmententscheidungen treffen wollen, und China-Analysten, die ihnen dazu einigermaßen belastbare und realistische Prognosen zur weiteren Konjunkturentwicklung liefern sollen, stehen vor einem so noch nie dagewesenen Unsicherheitsproblem. Die Dauer und Intensität der in Schanghai verordneten Lockdown-Maßnahmen sowie der in zahlreichen anderen Ballungsgebieten greifenden Mobilitätsrestriktionen sprengen bereits alle bisherigen Vorstellungen. Die Annahmen, wie lang der Atem der sogenannten Covid-Zero-Politik reichen mag, hängen von Annahmen ab, wann die Schmerzgrenze der vom Staatsführer für seine politischen Ziele in Kauf genommenen wirtschaftlichen Verwerfungen erreicht ist. Das ist ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen.

Immerhin gibt es einen winzigen Hoffnungsschimmer. Dem letzten Aufruf des Präsidenten Xi zum unerbittlichen Festhalten an der Corona-Nulltoleranzstrategie mit der Begründung, dass sie vom Wesen und den Prinzipien der Kommunistischen Partei bestimmt wird, ist ein neuerlicher Warnruf des Premierministers Li Keqiang gefolgt, dass es um Chinas Beschäftigungssituation schlecht steht und die Regierungsbehörden dafür sorgen sollen, dass die Industrieproduktion trotz strengster Coronaschutz-Protokolle am Laufen gehalten wird. Das klingt nach einem Hauch von Vernunft und im gegenwärtigen politischen Umfeld sogar nach einem Hauch von öffentlich gemachtem Dissens zwischen einem allmächtigen Präsidenten und einem mehr oder weniger ohnmächtigen Regierungschef. Kraft seines Amtes ist Li eigentlich der Oberbefehlshaber über den wirtschaftspolitischen Steuerungskurs des Landes, steht aber völlig im Schatten von Xi. Könnte er auch nur ein wenig aus ihm heraustreten, wäre China viel damit gedient.

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