Ukraine-Krieg

Exit aus Russland fordert Vorstände heraus

Viele Konzerne müssen derzeit abwägen, ob sie ihr Geschäft in Russland zurückfahren oder aufgeben. Der Vorstand hat für die Entscheidung einen breiten Ermessensspielraum, doch es gibt Fallstricke.

Exit aus Russland fordert Vorstände heraus

Von Lucina Berger und

Jochen Vetter*)

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine stellt Vorstände von Unternehmen, die bisher in Russland mit eigenen Produktions- oder Vertriebsstätten tätig sind, vor ungeahnte Herausforderungen: Zunächst müssen sie im Rahmen ihrer Legalitätspflicht die zwingenden westlichen Sanktionen beachten. Angesichts der großen Dynamik und der regelmäßigen Verschärfung sind Veränderungen des Sanktionsregimes eng zu beobachten, um Rechtsverstöße verlässlich auszuschließen.

Außerhalb dieser zwingenden Verbote ist der Vorstand zweifellos nicht verpflichtet, sondern hat Ermessen, ob und in welchem Umfang er sich freiwillig aus Russland zurückzieht. Von diesem Ermessen muss er auf der Basis einer angemessenen Informationsgrundlage und sachlicher Gründe zum Wohle des Unternehmens Gebrauch machen. Dies klingt auf den ersten Blick wesentlich einfacher, als es in der Praxis häufig ist.

Zunächst stellt sich die Frage, wie sich das Wohl der Gesellschaft definiert: Ist der Vorstand verpflichtet, diejenige Vorgehensweise zu wählen, die im Hinblick auf die Vermögens-, Ertrags- und Finanzlage des Unternehmens am vorteilhaftesten erscheint? Dass er dabei auch die – häufig nicht leicht zu bewertenden – Auswirkungen auf die Reputation des Unternehmens und die Folgen von deren Schädigung auf die Geschäftstätigkeit mitberücksichtigen darf, ist unbestritten. Oder darf der Vorstand für das ihm anvertraute Unternehmen der Aktionäre einen Rückzug aus Russland aus politischen oder ethischen Gründen auch dann beschließen, wenn dies wirtschaftlich nachteilig erscheint?

Die Frage, in welchem Umfang der Vorstand bei seinen Entscheidungen Gemeinwohlbelange mitberücksichtigen darf und ob sich Ethik bei der Unternehmensführung lohnen muss, ist in Deutschland noch nicht abschließend geklärt. Nach zutreffender Ansicht hat der Vorstand, auch wenn er fremdes Vermögen verwaltet, einen weiten Ermessensspielraum. Dies gilt für die Arbeitsbedingungen in den eigenen Fabriken, die eigenen Klimaschutz- und sonstigen Umweltschutzbemühungen und auch, jedenfalls in außergewöhnlichen Situationen wie dem russischen Angriffskrieg, für politische Erwägungen. Im Gesetz lassen sich ausreichende Hinweise darauf finden, dass auch unternehmerische Bemühungen um das Gemeinwohl erwünscht sind; eine vorherige Zustimmung der Aktionäre sieht das Aktienrecht nicht vor. Eine Grenze ist erreicht, wenn der Einsatz für das Gemeinwohl die Überlebensfähigkeit oder dauerhafte Rentabilität des Unternehmens gefährdet.

Kein Freibrief

Damit ist selbstverständlich kein Freibrief für politischen Aktionismus ausgestellt. Der Vorstand muss seine Entscheidung auf eine gründliche tatsächliche und rechtliche Analyse seines Entscheidungsspielraums stützen. Dazu gehören insbesondere Antworten auf die folgenden Fragen: Was soll mit einem „Rückzug“ aus Russland erreicht werden: Geht es um eine wirtschaftlich zweckmäßige Entscheidung? Geht es darum, die Reputation des Unternehmens zu wahren? Soll der Missbrauch eigener Produkte zur Unterstützung des Krieges verhindert werden oder soll ein politisches Statement gesetzt werden und, wenn ja, welches?

Ferner ist zu berücksichtigen, inwieweit die Mittel zur Erreichung des konkret verfolgten Zwecks geeignet und angemessen sind. Sollen etwa die Aktivitäten in Russland komplett eingestellt werden, sollen lediglich bestimmte Geschäftspartner ausgeschlossen werden oder soll der Rückzug auf die Produkte beschränkt werden, die kriegerische Maßnahmen unterstützen könnten, während Güter des täglichen Bedarfs oder Essential Goods wie Grundnahrungsmittel oder Medikamente weiter vertrieben werden? Soll nur das Neugeschäft oder auch das bestehende Geschäft einschließlich Service und Wartung eingestellt werden? Sollen lediglich Einkauf, Produktion und Vertrieb beendet werden oder soll auch das Anlagevermögen in Russland aufgegeben werden?

Auch wenn die Motivation nicht primär kommerzieller Art sein sollte, muss der Vorstand in jedem Fall die wirtschaftlichen Auswirkungen seiner Entscheidung möglichst genau analysieren. Dies betrifft die Auswirkungen auf die kurz-, mittel- und langfristige Vermögens-, Finanz- und Ertragslage ebenso wie etwaige Schadenersatzansprüche von Vertragspartnern. Welche Auswirkungen hat ein Russland-Exit auf die sonstigen Geschäftsaktivitäten außerhalb Russlands? Droht eine Insolvenz der russischen Tochter, und welche Konsequenzen hätte dies? Könnte die Schließung der russischen Tochter wichtige Verträge der Mutter, insbesondere Kreditverträge, berühren? Droht eine Enteignung durch den russischen Staat? Gerade dieser Aspekt hat wiederum eine unmittelbar politische Dimension, die bei der Zwecksetzung berücksichtigt werden muss, wenn ein solcher Rückzug letztlich dazu führt, dass dem russischen Aggressor Vermögen und Produktionsmittel unentgeltlich in die Hände fallen.

Hinzu kommt die Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern in Russland. Sollen diese entlassen oder zumindest für eine Übergangszeit weiterbezahlt werden? Lässt sich eine Schließung der russischen Aktivitäten ohne persönliche Gefährdung der damit betrauten Mitarbeiter umsetzen? Welche sonstigen Risiken brächte eine kurzfristige Betriebsschließung für Mensch und Umwelt vor Ort? – Man denke an die Aufgabe einer Chemiefabrik.

Schwierige Käufersuche

Wenn die Entscheidung getroffen ist, sich aus Russland zurückzuziehen, stellt sich die Frage, ob die russische Tochtergesellschaft oder das Betriebsvermögen in Russland an einen Dritten veräußert werden kann und soll. Dies erfordert eine weit­gehende Eigenständigkeit (Stand-alone-Fähigkeit) der russischen Aktivitäten, da im Zweifel eine Fortsetzung von Liefer- und Leistungsbeziehungen durch andere Konzernunternehmen nicht erwünscht ist.

Weiter wird ein geeigneter Erwerber benötigt. Dieser muss aus Russland oder einem Staat stammen, der von der russischen Föderation nicht als „unfriendly state“ angesehen wird. Lässt sich sogar eine Möglichkeit finden, beispielsweise im Wege einer Call-Option, die russischen Aktivitäten nach Beendigung des Krieges und einer Entspannung der politischen Lage zurückzuerwerben? In der Praxis erweisen sich derartige Transaktionen meist als sehr komplex. Soweit es um sanktionierte Geschäftsaktivitäten geht, ist die Gefahr einer unzulässigen Gesetzesumgehung groß, insbesondere wenn der bisherige Geschäftsinhaber das Unternehmen in der Zeit zwischen Verkauf und Ausübung der Call-Option finanzieren muss.

Im nicht sanktionierten Bereich ist die Flexibilität deutlich größer; hier hängt die Realisierbarkeit einer Transaktion zum Zwischenparken die russischen Aktivitäten primär von der Stand-alone-Fähigkeit des Ge­schäfts, dem Finanzierungsbedarf für die Zwischenzeit und der Verfügbarkeit eines geeigneten, vertrauenswürdigen Erwerbers ab.

Hoch komplex

Die zahlreichen vorstehenden Fragen können lediglich einen ersten Eindruck von der Komplexität eines kurzfristigen unternehmerischen Rückzugs aus einem Land vermitteln, in dem nennenswerte unternehmerische Aktivitäten betrieben werden. Als Fazit lässt sich feststellen: Der Vorstand hat ein recht weites unternehmerisches Ermessen und ist bei seiner Entscheidung, ob und in welchem Umfang er sich aus Russland zurückzieht, nicht auf ausschließlich wirtschaftliche Erwägungen beschränkt. Jede Entscheidung erfordert aber eine gründliche Analyse einer Vielzahl komplexer Einzelfragen, deren Beantwortung häufig mit nicht unerheblicher Rechtsunsicherheit, teilweise sogar mit dem berühmten Blick in die Glaskugel verbunden ist. Gutgemeinte Ratschläge von der Seitenlinie durch Politik, Medien oder (Internet-) Öffentlichkeit sind fast zwangsläufig anmaßend und wenig hilfreich. Schließlich fehlt den selbst ernannten Ratgebern typischerweise schon eine rudimentäre Kenntnis der unternehmensspezifischen Umstände, die bei einer solchen Entscheidung mitberücksichtigt werden müssen.

*)  Dr. Lucina Berger ist Partnerin von Hengeler Mueller in Frankfurt, Prof. Dr. Jochen Vetter ist Partner der Kanzlei in München.

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