Versicherer

R+V schaltet im Wachstum einen Gang zurück

Die R+V dürfte mit jetzt 20 Mrd. Euro Beitragseinnahmen die Position als zweitgrößter deutscher Erstversicherer gefestigt haben. Für 2022 sieht Vorstandschef Norbert Rollinger viele Herausforderungen.

R+V schaltet im Wachstum einen Gang zurück

Antje Kullrich.

Herr Rollinger, wie hat sich das Geschäft der R+V im vergangenen Jahr entwickelt?

Dafür, dass wir immer noch Pandemie und das schwerste Naturkatastrophenjahr aller Zeiten hinter uns haben, ist es ein sehr ordentliches Jahr geworden. Wir haben mit 20,1 Mrd. Euro die Marke von 20 Mrd. Euro Beitragseinnahmen geknackt. Das war ein Ziel, das wir uns eigentlich erst für unser diesjähriges Jubiläumsjahr gesetzt hatten. Wir feiern 100 Jahre R+V.

Nach dem Wachstum von 2020, als die R+V noch um 7,5% im deutschen Erstversicherungsgeschäft zulegte, fällt das Plus von nur etwas über 1% dennoch ein wenig ernüchternd aus. Im ersten Halbjahr 2021 lag die Wachstumsrate noch bei 4,4%. Was ist da im zweiten Halbjahr passiert?

Das ist der Fluch der guten Tat. Wir hatten ein sehr gutes Vorjahr, mit einem sehr starken Wachstum auch in der Lebensversicherung. Es ist schwierig, das nochmal zu steigern. In der Schaden- und Unfallversicherung sind wir 2021 mit mehr als 3% stärker gewachsen als der Markt, in der Krankenversicherung haben wir sogar um 15% zugelegt. Und in der Lebensversicherung sind wir bei den laufenden Beiträgen immerhin um mehr als 4% gewachsen, während der Markt dort stagniert hat. Wir werden mit dem starken Wachstum, für das wir bekannt sind, auch etwas selektiver. In der Lebensversicherung steuern wir angesichts der anhaltend niedrigen Zinsen und der Anforderungen von Solvency II um. Mittlerweile haben wir unsere Produktpalette erfolgreich umgestellt.

Bisher hatte die R+V daran festgehalten, in der Lebensversicherung Produkte mit klassischen Garantien anzubieten. Gibt es die auch weiterhin im Neugeschäft?

Es gibt noch ausgewählte Produkte mit klassischen Garantien, aber wir stellen fest, dass sich der Kundenbedarf deutlich verändert hat. Bis zur Pandemie hatten wir noch eine stärkere Nachfrage nach diesen Garantieprodukten. Das hat sich jetzt – auch mit der gestiegenen Inflation –  geändert. Fondspolicen und flexible private Altersvorsorgeprodukte mit geringeren Garantiebestandteilen, dafür aber deutlich höheren Renditechancen, waren besonders gefragt im vergangenen Jahr.

Wie sehen die Mittelfristziele der R+V in der Lebensversicherung aus?

Wir wollen weiter mindestens mit dem Markt und, wenn es geht, auch stärker wachsen – aber nur da, wo es sich rechnet. Wir können auf unseren starken Bankvertrieb über die genossenschaftlichen Institute zählen. Wir sind die Nummer 2 im Markt, und diese Position wollen wir fes­tigen. 

Das auffälligste Wachstum verzeichnet mit 15% die Krankenversicherung. Wie viel davon geht auf Neugeschäft, wie viel auf Preiserhöhungen zurück?

Im Wesentlichen geht der Anstieg auf echtes Neugeschäft zurück. Der Haupttreiber des Wachstums war die betriebliche Pflegeversicherung Careflex für die Chemieindustrie, die wir in einem Konsortium zusammen mit der Barmenia anbieten. Aber auch außerhalb von Careflex wachsen wir stark aus echtem Neugeschäft. Insgesamt haben wir die Zahl der Versicherten in der Voll- und in der Zusatzversicherung im vergangenen Jahr um 21% auf 1,5 Millionen Kunden gesteigert.

Was machen Sie jetzt strategisch mit diesem Erfolg?

Wir wollen unsere neue Kundenbasis aus der betrieblichen Pflegeversicherung, die ja arbeitgeberfinanziert ist, natürlich nutzen, um bei den Unternehmen noch weitere Produkte zu platzieren. Ich hoffe auch, dass wir neben Careflex Chemie, was sicher Modellcharakter für den Markt hat, noch weitere Branchen finden werden, die in solche Produkte einsteigen wollen. Das Potenzial hierfür ist vorhanden.

Ein Topthema in der Branche im vergangenen Jahr waren Naturgefahren. In der Schaden- und Un­fallversicherung hat die Branche im abgelaufenen Jahr vor allem in Folge von „Bernd“ operativ rote Zahlen geschrieben. Wie sieht es bei der R+V aus?

Wir haben fast 1,1 Mrd. Euro Bruttoschaden aus Naturkatastrophen im vergangenen Jahr verzeichnet. Das war das schadenträchtigste Jahr unserer 100-jährigen Geschichte.  Wir haben es über eine gute Rückversicherungskonstruktion geschafft, die Be­lastung abzumildern und noch ein recht ordentliches Netto-Ergebnis zu erreichen. So liegt das HGB-Ergebnis in der Gruppe einigermaßen im Plan. Was IFRS angeht, lief es durch eine gute Entwicklung an den Börsen sogar noch etwas besser als erwartet.

Welche Konsequenzen hat „Bernd“ für die R+V? Haben Sie die Preise in der Wohngebäudeversicherung erhöht?

Wir mussten die Beiträge an die gestiegene Schaden- und Kostenentwicklung anpassen – allein schon durch die 5,5-prozentige Erhöhung des Baupreisindex. Mit Sorge beobachten wir, dass Bau- und Handwerkerleistungen fast gar nicht zu bekommen sind und wenn, dann nur zu stark gestiegenen Preisen. Auch unser Rückversicherungsschutz wird deutlich teurer. In der Wohngebäudeversicherung verursacht Leitungswasser weiterhin den größten Teil der Schäden, und hier haben wir auch einen kontinuierlichen Anstieg der Anzahl und der durchschnittlichen Höhe der Schäden.

In welcher Größenordnung hat sich die Wohngebäudeversicherung denn verteuert?

Das ist natürlich individuell unterschiedlich, bewegt sich aber unter Einbeziehung des Inflationsausgleichs durchschnittlich um die 9 bis 13%.

Wie sieht es längerfristig mit der Überarbeitung von Schadenmodellen aus?

Das ist die Million-Dollar-Frage: War die Flutkatastrophe an Ahr und Erft jetzt ein Zehn-, Fünfzig- oder Hundertjahresereignis? Wir bauen sehr stark auf die Zürs-Zonierungen und die Starkregenmodelle des Verbands. Die Überarbeitungen sind aber noch nicht abgeschlossen. Wenn es nicht gelingt, den Anstieg der Temperaturen zu stoppen, dann werden wir uns viel stärker der Klimawandelfolgenanpassung widmen müssen.

Die Aufseher haben einen verschärften Blick auf Klimarisiken. Die Versicherer müssen jetzt Auskunft darüber geben. Wie sieht es mit Klimastresstests bei der R+V aus? Welche Erkenntnisse haben Sie da eventuell schon gezogen?

Wir stehen damit noch am Anfang. Wir sind gerade dabei, die EU-Taxonomie zu verstehen und zu übersetzen, um hier auch Ziele für unser Haus festzulegen. Von Stresstests, wie wir sie von der Kapitalmarktseite her kennen, sind wir noch etwas entfernt.

Wie gestaltet sich die Umsetzung der EU-Taxonomie?

Das ist eine große Herausforderung, denn die Verordnung lässt noch viele Fragen offen. Wir werden kein Greenwashing betreiben, sondern streben sehr ernsthaft CO2-Neutralität für unser Haus an. Wir setzen uns Ziele für die nächsten Jahre, haben eine Nachhaltigkeitskommission unter dem Vorsitz unseres Finanzvorstands Marc Michallet eingerichtet und in der Konzernentwicklung eine Einheit etabliert, die sich mit Nachhaltigkeit als Querschnittsfunktion beschäftigt. Es wird in den einzelnen Ressorts sehr intensiv daran gearbeitet – in der Zeichnungspolitik, in der Kapitalanlage, im Produktmanagement wie auch in unserer Betriebsökologie. Die Low Hanging Fruits wie die Nutzung von Fernwärme oder erneuerbarer Energien haben wir schon realisiert, die Umstellung der Dienstwagenflotte auf hybride und E-Fahrzeuge läuft.

In welchem Maße sind die Altersvorsorgeprodukte der R+V taxonomiekonform?

Das lässt sich so heute noch gar nicht beantworten, denn die Taxonomiekonformität ist ein langfristiges Ziel. Der größte Teil der Altersvorsorgeprodukte orientiert sich schon an Nachhaltigkeitskriterien. Ich denke da vor allem an die fondsgebundenen Produkte, wo es sehr viel leichter ist, die Anforderungen zu erfüllen, als bei den Garantieprodukten. Da gibt es Deckungsstöcke mit sehr langfristigen Kapitalanlagen, eine eventuell notwendige Umschichtung dauert hier länger. In Bezug auf die Offenlegung der Taxonomiekennzahlen befinden wir uns, wie die gesamte Finanzbranche, in einem Probelauf. Wir werden da ein bisschen allein gelassen und sollen Angaben machen, obwohl die Kriterien noch nicht feststehen.

Versichern Sie weiterhin sogenannte braune Industrien?

Wir wollen keine grundsätzlichen Ausschlüsse vornehmen. Manche Energieversorger haben heute ein ökologisches Problem. Da müssen wir nicht noch als Versicherer in die Kerbe hauen und sagen, es gibt jetzt keinen Versicherungsschutz mehr, weil uns die Transformation nicht schnell genug geht. Wir suchen eher den Dialog und begleiten Unternehmen bei der Transformation. Wir wollen natürlich auch Fortschritte sehen. Wir gehen aber differenziert vor und zeichnen nicht jedes Risiko, sondern entscheiden auf Basis unserer ESG-Kriterien. Ich will nicht ausschließen, dass wir da auch unsere Zeichnungspolitik anpassen und ökologisch problematische Risiken anders bewerten.

Wenn Sie die aktuellen Themen einmal gewichten: Welches sind die größten Herausforderungen für Ihr Haus in diesem Jahr?

Die größte Herausforderung ist das Zinsumfeld. Einerseits freuen wir uns über leicht steigende Zinsen, weil wir in der Lebensversicherung dann wieder attraktivere Renditen bieten können. Aber das bedeutet natürlich auch Abschreibungsgefahr auf die in den vergangenen acht, neun Jahren getätigten Investitionen in Papiere. Wir haben weiter eine anspruchsvolle Kapitalanlage. Die Aktienmärkte waren ja im Januar extrem volatil. Wir erwarten ein sehr unruhiges Jahr. Was wir auch mit Sorge sehen, ist die Inflation. Die frisst in der Lebensversicherung die Renditen auf und gefährdet in der Schadenversicherung unsere Rückstellungen, die möglicherweise entwertet werden und dann zu knapp bemessen sein könnten. Das gilt besonders für das sogenannte Longtail-Geschäft, das eine mittel- bis langfristige Dauer der Schadenregulierung mit sich bringt. Wir sehen im Zuge der Pandemie eine steigende Gefahr von Insolvenzen. Das könnte uns zweifach treffen: Einerseits im Bereich der Kreditversicherung, wo durchaus der eine oder andere Ausfall drohen könnte. Andererseits bei Firmen, die wir heute versichern, die aber vielleicht bald ihr Geschäft aufgeben müssen und dann als Kunden wegfallen. Das würde sich dann auch dämpfend auf die Wachstumschancen auswirken.

Noch ein anderes Thema: Der Countdown für die Scharfschaltung von IFRS 17 läuft. Die R+V gehört zu der überschaubaren Zahl der IFRS-Bilanzierer im deutschen Markt. Wie gut sind Sie vorbereitet?

Wir sind auf einem kritischen Pfad. Wir sind im Rechnungswesen auf entsprechende Zulieferung von Modulen durch den Softwareanbieter angewiesen. Da gab es lange Zeit für die ganze Branche Engpässe. Wir sind aber trotzdem zuversichtlich, dass wir pünktlich zum 1.1.2023 mit Vergleichsjahr 2022 dann veröffentlichen können. Das ist ein riesiger Aufwand. Wir investieren einen dreistelligen Millionenbetrag.

Wird die Durchsicht auf das eigene Haus denn besser mit IFRS 17?

Diese Frage sollten wir im nächsten Jahr noch einmal diskutieren. Angesichts der ganzen neuen Modellannahmen habe ich noch eine gehörige Portion Skepsis, ob IFRS 17 am Ende zu besseren Ergebnissen oder einer besseren Steuerung führt.

Das Interview führte

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