Britische Aktien

Schwindende Outperformance

Der britische Aktienmarkt hat sich 2022 besser geschlagen als die meisten anderen. Zu den Unwägbarkeiten gehören die Energiepreise, politische Volatilität und die Tiefe der erwarteten Rezession.

Schwindende Outperformance

Von Andreas Hippin, London

Wer die Turbulenzen am Anleihenmarkt und das Chaos in Westminster im vergangenen Jahr miterlebt hat, mag sich verwundert die Augen reiben. Doch zumindest auf Sterling-Basis hat sich der FTSE 100 besser entwickelt als andere Kursbarometer. Viele Aktienstrategen sind zuversichtlich, was die weitere Entwicklung angeht. Die Teuerungsrate könnte ihren Höhepunkt bereits überschritten haben. Die jüngsten Daten zum Bruttoinlandsprodukt waren etwas besser als weithin befürchtet. Die politische Lage scheint sich nach dem zweiten Wechsel des Premierministers innerhalb weniger Wochen zu stabilisieren.

„Wir bleiben bullish“, schrieb Sean Darby, der bei der US-Investmentbank Jefferies die weltweite Aktienstrategie verantwortet. „An­gesichts des sich schnell verbessernden Inflationsausblicks und der attraktiven relativen Bewertungen sind wir weiterhin optimistisch für die britischen Aktienmärkte“, heißt es im Jahresausblick von Panmure Gordon. An der Börse wird eben doch die Zukunft gehandelt. Analysten blicken bereits über die langgestreckte Rezession hinaus, die von den Volkswirten der Bank of England prognostiziert wurde.

„Bilanzrezession“

Darby verglich den Abschwung mit einer „Bilanzrezession“, in der Haushalte und Regierung die Löcher in ihren Bilanzen stopfen müssen. Es müsse gespart werden, bevor man daran denken könne, in eine Verbesserung der Produktivität zu investieren. „Die weitergehende Frage ist, wie die Volkswirtschaft nach Brexit und Pandemie restrukturiert wird, um ein Aufblühen der Produktivität zu ermöglichen, und sicherzustellen, dass sich keine Stagflation festsetzt“, schrieb der Stratege.

Legt man die Gesamtrendite zugrunde, verloren britische Aktien 2022 insgesamt lediglich 1,1 %. Anderenorts standen zweistellige Verluste zu Buche (siehe Grafik). Am besten entwickelten sich die Kurse von Öl- und Gaskonzerne wie BP und Shell, die von den nach der russischen Invasion der Ukraine weiter in die Höhe getriebenen Energiepreisen profitierten. Inflationsängste verhalfen Bergwerksbetreibern zu Kursgewinnen. Auch Versorger und Unternehmen aus dem Gesundheitswesen waren gefragt. Der britische Standardwerteindex, der die Weltwirtschaft besser widerspiegelt als die heimische Volkswirtschaft, profitierte von der relativ hohen Gewichtung „defensiver“ Aktien und der Schwäche der britischen Landeswährung, die Werten aus der Exportwirtschaft zugutekam. Er ging am 30. Dezember im Vorjahresvergleich um 0,7 % schwächer aus dem Handel. Der FTSE 250, dessen Mitglieder weitaus mehr vom Heimatmarkt abhängig sind, verlor dagegen gut ein Fünftel (21 %). Der AIM All-Share, der alle im Wachstumssegment der London Stock Exchange notierten Gesellschaften enthält, gab um fast ein Drittel (31 %) nach.

Neuwahlen als Risiko

„Während es 2022 bei einer Reihe von Trends Einbahnverkehr gegeben hat, erwarten wir, dass es 2023 eine Reihe von Wendepunkten geben wird“, schrieb der Londoner UBS-Volkswirt Dean Turner vor dem Jahreswechsel den Kunden der Vermögensverwaltungssparte GWM. Man gehe mit Fokus auf defensive Werte, Value, Einkommen und Diversifizierung ins neue Jahr. „Wir glauben, dass bei Zyklikern und Wachstumswerten, riskanteren Schuldentiteln inklusive High Yield und einem schwächeren Dollar bessere Gelegenheiten entstehen werden“, schrieb Turner. Doch ist nicht alles eitel Sonnenschein: Die politische Volatilität werde zwar viel niedriger sein, aber nicht ganz verschwinden. „Wir gehen davon aus, dass Premierminister Rishi Sunak Probleme haben wird, seine Partei im Griff zu behalten“, schrieb Turner. Es werde ihm nicht leichtfallen, unpopuläre Maßnahmen durch das Unterhaus zu bringen. Die Wahrscheinlichkeit von Neuwahlen im laufenden Jahr sei größer als viele dächten. Am Markt werde dieses Risiko nicht ausreichend berücksichtigt.

Die Strategen von Bank of America sind nicht besonders optimistisch für den britischen Aktienmarkt, denn sie gehen davon aus, dass sich der zuletzt beobachtete Rückgang der Ölpreise vor dem Hintergrund schwächeren Wachstums weltweit fortsetzen wird. Das dürfte vor allem die schwer gewichteten Energiekonzerne belasten, deren Kurse seit Herbst schon etwas nachgegeben haben. Ihre Anlageempfehlung lautet deshalb: „Untergewichten“.

„Aufregende Chancen“

Mislav Matejka, der Top-Aktienstratege des Rivalen J.P. Morgan, sieht das anders. Der FTSE 100 biete weiterhin „aufregende Chancen“, sagte er im Dezember vor Journalisten in London. „Da gibt es nicht viel Abwärtspotenzial. Innerhalb der entwickelten Märkte bleibe der In­dex ein „Overweight“. Russ Mould, Investment Director beim Broker AJ Bell, verwies auf die alte Börsenweisheit, dass man gute Nachrichten und billige Aktien haben könne, allerdings nicht zur gleichen Zeit. Wer günstig einsteige, habe die besten Aussichten,langfristig eine gute Rendite zu erwirtschaften. „Selbst ein Anstieg des FTSE 100 um 10 bis 12 % auf 8,250 Zähler würde lediglich zu einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 12 und einer Dividendenrendite von 3,8 % führen“, sagte Mould. Beides wirke nicht besonders ambitioniert.

Gute Geschäftsaussichten

Was Aktien von Einzelgesellschaften angeht, wird in den Finanzmedien immer wieder auf die guten Geschäftsaussichten börsennotierter Abwickler und Restrukturierer wie Begbies Traynor oder FRP Advisory im herannahenden Abschwung verwiesen. Allerdings haben ihre Aktien bereits eine kräftige Aufwärtsentwicklung hinter sich. Der Markt hat also schon einiges vorweggenommen. Auch GSK (zuvor: GlaxoSmithKline) gehört zu den Aktien, die für 2023 immer wieder empfohlen werden. Die Ausgliederung von Haleon hat ein auf das Pharma-Kerngeschäft fokussiertes Unternehmen hervorgebracht, das mit einem KGV von 9,9 weit billiger zu haben ist als seine Rivalen, für die meist KGVs im mittleren bis oberen Bereich zwischen 10 und 20 bezahlt werden müssen. Allerdings hängt ein Rechtsstreit um die Frage, ob Zantac – ein Medikament gegen Sodbrennen – Krebs erregt, wie ein Damoklesschwert über der Kursentwicklung. Zuletzt wies ein US-Richter die Kläger ab. Doch sie könnten in Berufung gehen.

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