Anlagestrategie

Vom Jahrzehnt der Narrative zur Dekade der Zahlen

Das dauerhaft veränderte Zinsumfeld hat dem Jahrzehnt der Narrative ein abruptes Ende gesetzt. Abgelöst wird es von einem Jahrzehnt der Zahlen.

Vom Jahrzehnt der Narrative zur Dekade der Zahlen

Die Zeit des billigen Geldes ist vorbei, denn die Zinsen steigen wieder – und bleiben längerfristig auf hohem Niveau. Nicht nur der kurzfristige Druck auf der Angebotsseite wirkt sich auf die Inflation aus – die Veränderungen sind strukturell. Deglobalisierung, Dekarbonisierung und die wirtschaftliche Neuausrichtung Chinas werden die Preise auch langfristig antreiben. Viele Parameter haben sich grundlegend verändert und fordern eine Anpassung der Investment-Strategie. Für Investoren bedeutet das, dass die alten Regeln, aus Zeiten, in denen es noch Zinsen gab, wieder gelten: solide Geschäftsmodelle und eine sorgfältige Auswahl der Anlageklassen.

Seit der Finanzkrise 2008 hat die Europäische Zentralbank den Leitzins kontinuierlich gesenkt und eine Phase des billigen Geldes geschaffen. Mit zusätzlichen umfangreichen An­leihekäufen bestand nahezu unbegrenzter Zugang zu Kapital. Fast jede Idee konnte in diesem Umfeld ihren Schöpfer und gebewillige Investoren finden. Zusammen mit staatlichen Förderprogrammen und dem Pandemic Emergency Purchase Program (PEPP) der EZB hat dieser Trend 2021 für Rekordhochs an den Börsen gesorgt. Von dieser Euphorie ist mittlerweile kaum etwas übrig. Investoren sind nicht mehr bereit, in Gewinne zu investieren, die unter Umständen erst in ferner Zukunft erzielt werden.

Das dauerhaft veränderte Zinsumfeld hat dem Jahrzehnt der Narrative ein abruptes Ende gesetzt. Die von Bundeskanzler Olaf Scholz angesprochene „Zeitenwende“ findet eben auch an den Kapitalmärkten statt. Abgelöst wird das Jahrzehnt der Narrative von einem Jahrzehnt der Zahlen. Für Investoren bedeutet das, dass sie neu über die Allokation verschiedener Anlageklassen nachdenken müssen. So wird das Jahr einige neue Hochstände hervorbringen: bei der globalen Inflation, der Straffung der Zentralbankpolitik, den Renditen von Staatsanleihen der Kernländer und der Marktvolatilität. In anderen Be­reichen werden wir sicher Tiefstände sehen – etwa bei den Wachstumsraten der BIPs, den Unternehmensgewinnen und der Bewertung globaler Aktienmärkte.

Diese Trendverschiebungen machen Anpassungen bei Investment-Strategien über nahezu alle Anlageklassen notwendig. Anleiheinvestoren müssen etwa neben strukturellen Veränderungen auch die extrem hohe Staatsverschuldung beachten, die auch 2023 weiter steigen wird. Es ist davon auszugehen, dass sich Investoren gegenüber der Politik verstärkt für ihre Interessen einsetzen werden. Politische Unstimmigkeiten zwischen Finanz- und Währungsbehörden innerhalb von Staaten sowie große fiskal- oder geldpolitische Unterschiede zwischen einzelnen Staaten werden bestraft.

Und auch auf der Finanzierungsseite wird sich Anpassungsbedarf ergeben. Seit 2008 wurden viele Finanzstrukturen auf sinkende Zinsen und schließlich Nahe-null-Zinsen aufgebaut – Fremdkapitalstrukturen eingeschlossen. Kreditnehmer mit variablen Zinssätzen werden sich hier unmittelbar auf das neue Umfeld einstellen müssen. Doch auch für Schuldner mit festen Zinsvereinbarungen wird es längerfristig Anpassungsbedarf geben, da sich die Zinsen dauerhaft auf einem höheren Niveau einpendeln dürften. Die Fähigkeit, sich an höhere Zinsen anzupassen, wird dabei für Investoren zu einem neuen Hauptfaktor bei der Bonitätsbewertung.

Bei risikoreicheren Anlageklassen ergibt sich eine komplexere Situation. Im alten Marktumfeld vor 2008 waren Investoren auf der Suche nach Unternehmen, die verlässliche Ge­winne auch in schwierigen ökonomischen Phasen erzielen. Dieses Paradigma gilt im neuen Marktumfeld wieder. Plausible Geschäftsmodelle und Finanzierungspläne schaffen eben auch dann positive reale Wachstumsaussichten, wenn die Kapitalkosten steigen und auch dauerhaft auf einem höheren Niveau bleiben. Der Suche nach Unternehmen mit attraktiven Bewertungen kommt dabei wieder eine zentrale Bedeutung zu – Selektion statt breite Marktinvestments heißt die Devise.

Bei den meisten Unternehmen ist die Bewertung im vergangenen Jahr bereits zurückgegangen und hat risikofreudige Investoren angelockt. Dieser Optimismus hat dazu beigetragen, dass sich viele Indizes weitestgehend von ihren Tiefständen erholt haben. Angetrieben wurde diese Rally auch durch die Annahme, dass bei Inflation und Zins der Höhepunkt erreicht ist. Doch das ist keinesfalls ein Zeichen der Entwarnung, denn bisher wurden die gestiegenen Kosten zum größten Teil an die Verbraucher weitergegeben und hatten somit sogar einen positiven Effekt auf den Umsatz der Unternehmen. Wenn die Inflation in den kommenden Monaten zurückgeht und sich gleichzeitig das Wirtschaftswachstum verlangsamt, werden Verbraucher sensibler auf die gestiegenen Preise reagieren. Die Kosten einfach an die Verbraucher weiterzugeben, wird nicht mehr so einfach möglich sein, ohne die Nachfrage zu bremsen. In Folge ist in verschiedenen Branchen mit sinkenden Umsätzen zu rechnen, was auch dazu führen wird, dass die Aktienmärkte weiter sinken dürften.

Das sich verändernde Marktgeschehen verlangt von Investoren, sowohl strategisch als auch taktisch zu handeln und aufkommende Gelegenheiten wahrzunehmen. Die beiden Rallys seit dem Sommer waren Chancen, um die Asset-Allokation anzupassen. Mehr Risiko oder weniger, Value oder Growth, zyklisch oder defensiv. Auch im Jahr 2023 werden viele Investoren ihre Depots weiter anpassen müssen, denn aufgrund der strukturellen Veränderungen der globalen Wirtschaft werden die Zinsen weiter hoch bleiben und die Liquidität am Markt zunehmend begrenzt. Eine Situation, wie sie die Märkte seit 2008 nicht mehr erlebt haben. Für Investoren könnte es sich lohnen, ihre alten Regelbücher der Vermögensallokation von vor 2008 wieder herauszukramen – denn was über Jahre als verstaubt galt, wird nun wieder höchst aktuell.