Strategie

Erste Schritte im Metaverse

Vom Mittelständler bis zum Großkonzern wagen immer mehr Unternehmen erste Schritte im Metaverse. Doch bei vielen überwiegt noch die Unsicherheit.

Erste Schritte im Metaverse

Die Pandemie war für viele Unternehmen eine schwere Zeit, für Anbieter von Karnevalszubehör war sie eine Katastrophe. Frohsinn und geselliges Beisammensein hatten Pause. Der Mittelständler Deiters konterte mit einem ungewöhnlichen Schritt. Wenn man Menschen im realen Leben gerade nicht verkleiden kann, warum dann nicht in der virtuellen Welt? Das Unternehmen rief daraufhin den Dressed Ape Costume Club ins Leben, in Anlehnung an den Bored Ape Yacht Club, der damals gerade für Furore sorgte. Dahinter steckt eine limitierte Edition von Non-Fungible Token (NFT). Wer ein NFT erwirbt, wird dadurch Mitglied eines exklusiven Clubs an NFT-Besitzern. Einen ähnlichen Gedanken verfolgt auch Deiters mit dem Club der kostümierten Affen, deren Besitzer über Rabattaktionen und andere Angebote auch im realen Leben an die Marke gebunden werden sollen. Von den 2222 digitalen Bildern hat Deiters einer Webseite zufolge bislang zwar erst 965 Stück verkauft, dennoch dürfte Deiters damit einer der ersten Mittelständler sein, der eine eigene Metaverse-Strategie entwickelt hat.

Das Metaverse ist eine Erweiterung des Internets, bei der die Grenzen zwischen virtueller und realer Welt durchlässiger werden. So können Menschen sich mit Avataren ihr virtuelles Ebenbild schaffen, digitale Zwillinge können reale Maschinen abbilden, und mit Hilfe von speziellen Zusatzgeräten wie beispielsweise Brillen und Augmentend-Reality-Technologie können Menschen eingeblendete Informationen sehen oder sich durch virtuelle Umgebungen bewegen und dort beispielsweise Konzerte besuchen, einkaufen, ein Meeting mit Arbeitskollegen aus aller Welt abhalten oder sogar Gerüche wahrnehmen.

Viele Unternehmen sind jedoch noch unsicher, wie sie mit dieser nächsten Evolutionsstufe des Internets umgehen sollen. Erst 26% sehen das Metaverse als Chance, ergab eine Umfrage von Bitkom Research unter mehr als 600 Unternehmen im vergangenen Jahr. Für 20 % überwiegen die Risiken des Metaverse. Gut jedes fünfte Unternehmen traut sich überhaupt noch keine Aussage zu, und jedes dritte geht davon aus, dass das Metaverse keinen Einfluss auf die eigene Geschäftstätigkeit hat. Dieser hohe Prozentsatz dürfte sich ein Stück weit mit Unwissenheit erklären lassen, vermutet Tobias Regenfuß, Technology Lead bei Accenture in Deutschland, Österreich und der Schweiz. „Viele Führungskräfte fangen gerade erst an, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und müssen erst einmal verstehen, was alles möglich ist“, beobachtet er. Gerade unter Großunternehmen sieht er sehr viel Interesse am Metaverse und seinen Auswirkungen auf Geschäftsmodelle.

Für manche Branchen liegt der Schritt in die virtuelle Welt näher als für andere – zum Beispiel in der Mode. Adidas lancierte Ende 2021 das NFT-Projekt „Into the Metaverse“ und verkaufte binnen kurzer Zeit fast 30 000 Token, die zusammen umgerechnet mehr als 22 Mill. Dollar kosteten. Gehandelt werden die NFT in der Kryptowährung Ether. Käufer zahlten nach damaligem Wechselkurs etwa 765 Dollar, dafür bekamen sie über ihr NFT Zugang zu exklusiven Adidas-Produkten, darunter ein Trainingsanzug und eine Mütze. Mit „Virtual Gear“ gibt es inzwischen auch eine spezielle Adidas-Kollektion aus virtueller Kleidung.

Rivale Nike war ebenfalls nicht untätig und verkündete im Dezember 2021 die Übernahme des Unternehmens RTFKT, das sich auf limitierte virtuelle Turnschuhe spezialisiert hat. Im April folgte der erste gemeinsame virtuelle Sneaker, für den Käufer Berichten zufolge bereit waren, im Schnitt mehrere tausend Dollar zu bezahlen.

Marketing im Metaverse

Neben Schuhen sind auch personalisierte Accessoires und Kleidungsstücke virtuell erhältlich: Das Karlsruher Unternehmen Axonic bietet sogenannte „Metawatches“. Die virtuellen Uhren können den Arm eines virtuellen Avatars schmücken oder mithilfe von (bislang in Deutschland allerdings kaum verbreiteten) VR-Brillen auf dem eigenen Handgelenk angezeigt werden. Die Modemarke Tommy Hilfiger gehörte im März 2022 zu den Teilnehmern der einwöchigen Metaverse Fashion Week in der virtuellen Welt Decentraland, auf der Besucher NFTs für ihre Avatare kaufen oder physische Kleidung zum Selbstanziehen in der wirklichen Welt shoppen konnten.

Ein Massenmarkt sind virtuelle Produkte noch nicht, vielmehr dienen sie als Statussymbole. Für Unternehmen ist der Schritt ins Metaverse deshalb bislang zu­meist noch eine Erkundungstour und ein Weg, sich neuen Zielgruppen vorzustellen und die Marke als innovativ und zukunftsfähig zu präsentieren.

Die Fabrik wird virtuell

Während die Ausstattung virtueller Avatare eher eine Spielerei ist, sind auch handfeste Industriethemen immer häufiger mit Metaverse-Technologien verknüpft. Ein Anwendungsfall sind Simulationen. Der Autohersteller BMW arbeitet seit Frühjahr 2021 mit Nvidia auf deren Echtzeit-Grafik-Kollaborationsplattform Omniverse an der Planung hochkomplexer Fertigungssysteme. Mussten Daten zur virtuellen Fabrikplanung zuvor von unterschiedlichen Anwendungen transferiert werden, soll die Omniverse-Plattform Live-Daten aus allen relevanten Datenbanken in einer Simulation zusammenzuführen. Der Prozess wird dadurch genauer und schneller. Mitarbeiter können unabhängig von ihrem Einsatzort auf die virtuelle Simulation zugreifen und gemeinsam an Prozessen arbeiten.

Virtual und Augmented Reality sind zunehmend im Kundenservice und bei Wartungsaufträgen gefragt. So können Experten bei Problemen mit Hilfe von Datenbrillen einen virtuellen Blick auf das Problem werfen und Hilfestellung leisten, ohne vor Ort zu sein. Auch wichtige Informationen lassen sich ergänzen: Der Getränkehersteller Coca-Cola nutzt beispielsweise das Augmented-Reality-Angebot von Teamviewer Frontline, um seine Logistikprozesse zu vereinfachen. Kommissionierer erhalten über Datenbrillen die Positionen, Orte und Mengen der Warenbestellungen direkt im Sichtfeld angezeigt.

Gerade industrielle Anwendungen wie virtuelle Fertigungsstraßen oder industrielle Zwillinge bieten für Unternehmen in Deutschland mit seiner starken Basis im Fahrzeug- und Maschinenbau großes Potenzial, glaubt Regenfuß. Die Möglichkeiten müssten jedoch auch genutzt werden, mahnt er. „Unternehmen in Asien sind deutlich experimentierfreudiger als jene in Europa“, beobachtet der Berater. Das birgt Risiken: „Wie gut ein Unternehmen das Metaverse und seine Technologien für sich zu nutzen weiß, wird sich perspektivisch in der Wettbewerbsfähigkeit niederschlagen“, ist er überzeugt. Noch eher ungewöhnlich ist die Nutzung in der Beraterbranche. Gleiss Lutz hat im vergangenen Juli als eine der ersten deutschen Kanzleien ein Büro im Metaverse eröffnet. Aber gehen Menschen wirklich virtuell zum Anwalt, oder ist das Metaverse-Büro eher ein Marketing-Gag? Die Zahl der Besucher lasse sich nicht verlässlich messen, da Decentraland, wo sich die Kanzlei befindet, nur registrierte Nutzer erfasse, teilt die Kanzlei auf Anfrage mit. Gäste können die virtuelle Plattform jedoch auch ohne Registrierung besuchen. Die Präsenz und damit verbundene Expertise im Metaverse hätten der Kanzlei allerdings „neue Gesprächspfade eröffnet, innerhalb und außerhalb von Rechtsabteilungen“, heißt es von Gleiss Lutz.

Die Kanzlei nutzt den virtuellen Standort inzwischen nicht nur für Kundenkontakte, sondern auch im Recruiting. Bewerber können über den virtuellen Standort Gespräche mit Juristen führen, die sie nicht persönlich treffen können. Auch im Rahmen von After-Work-Veranstaltungen für Nachwuchsjuristen wird das Decentraland-Büro genutzt.

Das Metaverse lässt selbst viele Unternehmen mit juristischen Fragezeichen zurück – von der Frage, welches Recht zur Anwendung kommt, bis hin zu heiklen Themen wie dem Datenschutz oder arbeitsschutzrechtlichen Fragen, wenn verschiedene Teams eines Unternehmens im Metaverse zusammenkommen. Einer Bitkom-Umfrage zufolge wünschen sich 48% Hilfestellung bei der rechtlichen Beurteilung des Schritts ins Metaverse. „Rechtliche Unsicherheiten dürfen aber keine Schutzbehauptung sein“, sagt Regenfuß. Er glaubt, dass viele Branchen um das Thema nicht herumkommen werden. „Virtuelle Filialen und neue Shopping-Erlebnisse werden in der Modebranche bald zum Standard gehören.“

Auch Weiterbildungen mit neuen Möglichkeiten zur Simulation zählen seiner Einschätzung nach zu den ersten Themen, die Unternehmen im virtuellen Raum abbilden werden. Letztlich ließen sich für fast alle Branchen Anwendungsfälle finden – vom Immobilienunternehmen, das seine Liegenschaften digitalisiert und virtuelle Besichtigungen anbietet, bis zur Versicherung, die eine virtuelle Filiale eröffnet und zugleich überlegt, wie virtuelle Gegenstände im Metaverse sich versichern lassen.

Das Metaverse als Hype abzuschreiben, hält Regenfuß für einen Fehler. „Mich erinnert diese Debatte an die Anfänge des Internets“, sagt er. Auch damals hätten viele das Potenzial unterschätzt und dadurch Marktchancen vertan. Das Metaverse werde sich in den kommenden Jahren graduell immer weiterentwickeln. Auf eines sollten Unternehmen sich seiner Ansicht nach daher einstellen: „Wir sehen mit dem Metaverse eine Weiterentwicklung des Internets. Damit wird sich früher oder später jeder auseinandersetzen müssen.“

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