Industriepolitik

Europas Suche nach dem kleinsten Übel

Die EU-Kommission muss industriepolitisch in die Offensive gehen. Genug Geld ist da – trotzdem wird Berlin eine Kröte schlucken müssen.

Europas Suche nach dem kleinsten Übel

Wie es aussieht, wenn enge Partner uneins sind, haben kürzlich Valdis Dombrovskis und Katherine Tai vorgeführt. Der Vizepräsident der EU-Kommission hatte die US-Handelsbeauftragte zu Gast, um über eine Reihe wichtiger Themen von transatlantischer Bedeutung zu sprechen. Immer wieder nickte Tai, um Zustimmung zu signalisieren. Als Dombrovskis schließlich auf den Inflation Reduction Act (IRA) zu sprechen kam und mehr Zugeständnisse forderte, verschwand das zugewandte Lächeln aus Tais Gesicht und ihre Mimik fror in angespannter Ernsthaftigkeit ein.

Hiesige Unternehmen blicken neidisch in die USA: Dort winken in den kommenden Jahren Steuernachlässe und direkte Zuschüsse von in Summe knapp 370 Mrd. Dollar für den Erwerb bzw. Verkauf klimafreundlicher Technologien – die Europäer bleiben außen vor. Von seinem Wahlversprechen „Buy American“ will US-Präsident Joe Biden partout nicht abrücken. Der EU-Kommission bleibt deshalb nichts anderes übrig, als selbst in die Offensive zu gehen.

Die Europäische Union steckt im Dilemma. Einerseits sind Politiker in Brüssel, Berlin und anderen Hauptstädten regelrecht beglückt, dass nun auch die Amerikaner mitziehen beim klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft. Andererseits lassen sie keine Gelegenheit aus, ihre Bedenken über Wettbewerbsnachteile für europäische Unternehmen zum Ausdruck zu bringen. Für viele ist Amerika nun mal einer der bedeutendsten Absatzmärkte weltweit.

Die USA vor ein Schiedsgericht der Welthandelsorganisation (WTO) zu zerren, wie es einige fordern, hilft nicht. Selbst WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala hat beide Seiten ermuntert, außergerichtliche Lösungen zu finden. Genauso schlecht wäre es, den IRA eins zu eins auf die EU übertragen zu wollen. Die WTO-Regeln erlauben dies. Doch das hieße, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und einen offenen Handelskonflikt zu riskieren. Das kann niemand wollen.

Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos hat EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ihre Antwort umrissen, die sie am 1. Februar konkretisieren will. Ihr schwebt ein „Green Deal Industrial Plan“ mit vier Säulen vor: vereinfachte Zulassungsverfahren, eine Weiterbildungsoffensive, neue Handelspartnerschaften zur Sicherung existenzieller Rohstoffe und neue Wege der Finanzierung.

Hier gehen die Vorschläge wild durcheinander. Deutsche und Franzosen wollen die Beihilferegeln schleifen. Italien und etliche andere lehnen das ab, weil sie finanziell nicht mithalten können. Sie fordern deshalb neue EU-Fördertöpfe. Das Argument ungleicher Wettbewerbsbedingungen zieht bei der EU-Kommission: Ein innereuropäisches Subventionsrennen würde den Binnenmarkt im Kern aushöhlen. Als Hüterin des fairen Wettbewerbs kann die EU-Kommission das unmöglich dulden. Für sie führt deshalb neben einer befristeten Lockerung der Beihilferegeln nichts an einem gemeinschaftlichen Förderinstrument vorbei, um das Aufweichen der Beihilferegeln zu flankieren.

Von der Leyen schwadroniert nebulös von einem Souveränitätsfonds. Wie der aussehen soll, hat sie allenfalls angedeutet. Eine Rolle könnte die Europäische Investitionsbank (EIB) spielen, um mit öffentlicher Anschubfinanzierung ein Vielfaches an privaten Investitionen zu hebeln. Das Reizwort aber lautet Gemeinschaftsschulden. Hier enden auch die Gemeinsamkeiten von Deutschen und Franzosen. Für Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron gibt es nach eigener Aussage kein Tabu mehr. Bundeskanzler Olaf Scholz sieht das anders. Er hat klargestellt, dass die gemeinsame Schuldenaufnahme in Reaktion auf die Coronakrise eine einmalige Sache gewesen sei.

Nicht wenige liebäugeln nun mit einer Neuauflage des EU-Kurzarbeitergeldes Sure, für das die EU-Kommission erstmals in großem Stil selbst die Kapitalmärkte anzapfte. Dabei ist der 750 Mrd. Euro schwere EU-Wiederaufbaufonds anders als die Sure-Hilfen längst nicht ausgeschöpft. Genug Geld ist da. Die Idee, vorhandene Milliarden umzuwidmen und zeitlich zu strecken, löst in Berlin allerdings ebenfalls Bauchschmerzen aus, weil Konflikte mit dem Bundesverfassungsgericht drohen. Denn der Wiederaufbaufonds ist bis 2026 befristet und nur mit diesem Ablaufdatum von Karlsruhe gebilligt. Am Ende wird die Bundesregierung eine Kröte schlucken müssen – und da sind vorhandene Milliarden in neuem Gewand allemal das kleinere Übel als neue Gemeinschaftsschulden.

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