Großbritannien

Nordirland-Protokoll als Stolperstein

Nordirland steht vor der zweiten Wahl in sieben Monaten, weil die Unionisten die politischen Institutionen der Provinz boykottieren. Sie wollen damit gegen das Nordirland-Protokoll protestieren.

Nordirland-Protokoll als Stolperstein

Von Andreas Hippin, London

Großbritanniens Premierminister Rishi Sunak ist erst seit wenigen Tagen im Amt, da macht sich ein seit langem schwelender Konflikt wieder bemerkbar, der vorübergehend in den Hintergrund getreten war: Nordirland steht vor Neuwahlen, nachdem die von der Londoner Zentralregierung gesetzte Frist für die Wiederherstellung einer handlungsfähigen Regionalregierung in Stormont verstrichen ist. Ein letzter Versuch zur Einigung verlief am Donnerstag ergebnislos. Auslöser der aktuellen Krise war die Weigerung der DUP (Democratic Unionist Party), sich an der Regierung der Provinz zu beteiligen. Sie wurde bei den Regionalwahlen im Mai erstmals nicht stärkste Partei und verhinderte die Wahl eines Speakers für das nordirische Parlament. Ihr geht es dabei darum, gegen das Nordirland-Protokoll der EU-Austrittsvereinbarung zu protestieren. Damit konnte die Volksvertretung ihre Arbeit bislang nicht auf­nehmen.

Das Zusatzprotokoll sollte eine harte Grenze quer durch über Grüne Insel verhindern. Stattdessen entstand eine Zollgrenze durch das Vereinigte Königreich – auf dem Grund der Irischen See. Alle Bemühungen, sich auf einen gemeinsamen Umgang mit den daraus resultierenden Schwierigkeiten zu einigen, sind bislang gescheitert. Die rigorosen Kontrollen machten es britischen Supermarktketten zeitweise nahezu unmöglich, ihre Niederlassungen in Ulster zu versorgen. Britische Saatkartoffeln und Blumenzwiebeln durften nicht eingeführt werden, weil noch britische Erde an ihnen klebte. Die Regierung legte dem Parlament in Westminster zuletzt das Northern Ireland Protocol Bill vor, mit dem sie sich die Rechtsgrundlage dafür schaffen will, das Protokoll notfalls auszuhebeln. Derzeit befindet es sich im Oberhaus.

„Extrem enttäuscht“

Ob sich durch Neuwahlen in Nordirland etwas ändert, ist fraglich. „Wir haben drei Premierminister gehabt, wir haben oft die Regierung gewechselt, und doch haben wir den Fortschritt nicht gesehen, der nötig wäre“, sagte Jeffrey Donaldson, der Chef der DUP (Democratic Unionist Party). Michelle O‘Neill, die Führerin der Nationalisten von Sinn Féin, warf Donaldson „Führungsversagen“ vor. Nordirlandminister Chris Heaton-Harris muss nun binnen 12 Monaten Neuwahlen ansetzen. Er sei „extrem enttäuscht“, schrieb Heaton-Harris auf Twitter. „Heute könnte Stormont Entscheidungen treffen, um die Herausforderungen abzumildern, vor denen die Menschen stehen. Stattdessen fällt mir die rechtliche Pflicht zu handeln zu.“ Als wahrscheinlicher Wahltermin gilt der 15. Dezember.

Die politischen Institutionen in Ulster wurden durch das Karfreitagsabkommen (Belfast Agreement) geschaffen, das 1998 den nordirischen Bürgerkrieg beendete. Es sah eine Teilung der Macht zwischen den verfeindeten Lagern vor. An der Spitze der Regierung stehen der First Minister (zuletzt O’Neill) und der Deputy First Minister. Einer von ihnen gehört stets dem nationalistischen, einer dem unionistischen Lager an. Beide sind gleichberechtigt. Einer kann ohne den anderen nicht im Amt sein. „Das Nordirland-Protokoll und das Karfreitagsabkommen können nicht nebeneinander existieren“, lautet die Position Donaldsons. „Das Protokoll treibt einen Keil durch das Abkommen und ist eine Bedrohung für Frieden und Stabilität in Nordirland“, sagte der im Juli verstorbene Unionistenführer David Trimble, der das Karfreitagsabkommen mit ausgehandelt hatte.

Sunak forderte die DUP zur Rückkehr nach Stormont auf. „Die Menschen in Nordirland verdienen eine funktionierende und lokal gewählte Exekutive, die auf die Probleme antworten kann, vor denen die Gemeinden dort stehen“, sagte sein Sprecher. Wie Sunak zum Nordirland-Protokoll steht, ist unklar. Er bemängelte einerseits, dass seine Anwendung zu großen Problemen für die Stabilität in Nordirland geführt habe. Andererseits forderte er dem „Telegraph“ zufolge Ende vergangenen Jahres Boris Johnson und den ehemaligen Brexit-Unterhändler David Forst auf, die Verhandlungen mit der EU nicht an dieser Frage scheitern zu lassen.

Nicht nur die Unionisten eskalieren den Streit. Der irische Premier Micheal Martin sagte, es könne keine Rückkehr zur Direktherrschaft Londons geben, sollten die Bemühungen zur Wiederbelebung von Stormont scheitern. Dann müsse die vom Karfreitagsabkommen geschaffene British-Irish Intergovernmental Conference tätig werden und die irische Regierung bei der Verwaltung der Provinz zu Rate gezogen werden. Und Sinn Féin dürfte früher oder später die im Abkommen ebenfalls vorgesehene Möglichkeit einer Volksabstimmung über den Anschluss an die Republik im Süden auf die Tagesordnung setzen.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.