Kristin Neumann, Brenntag

„Von Normalität kann keine Rede sein“

Brenntag versteht sich als Problemlöser. Entstehen Knappheiten bei einzelnen Chemikalien beschafft sie der Chemiedistributeur. Manchmal werden dabei auch außergewöhnliche Wege eingeschlagen.

„Von Normalität kann keine Rede sein“

Annette Becker.

Frau Dr. Neumann, Brenntag ist in den vergangenen Jahren nicht trotz, sondern wegen der diversen Krisen gewachsen. Stichwort: Lieferkettenprobleme. Herrscht jetzt wieder Normalität oder wo klemmt es noch?

Von Normalität, wie wir sie vor der Corona-Pandemie erlebten, kann keine Rede sein. Und ich bezweifle, dass wir an diesen Punkt schnell zurückfinden. Dafür hat sich seit 2019 strukturell vieles verändert: Die Regulierung hat stark zugenommen, zugleich gab es Knappheiten als Folge der Krise und nun kommen die Energiethemen hinzu. Weiterhin befinden wir uns heute geopolitisch in einer völlig anderen Situation. Abhängigkeiten über Ländergrenzen hinweg sind ein wichtiges Thema, auch jenseits des Ukraine-Kriegs.

Wie sieht die neue Normalität aus?

Wir werden noch einige Zeit mit Knappheiten umgehen müssen. Tatsache ist auch, dass wir Unsicherheiten aushalten und diese managen müssen. Das wird Warenströme verändern. Das ist unter anderem ein Grund dafür, dass Brenntag sich noch breiter aufstellen will, wie wir es in der neuen Strategie dargelegt haben. Mit unseren globalen Beschaffungsketten sind wir sehr gut aufgestellt und wollen diese noch besser nutzen.

Auf welche Produkte stellen Sie ab, wenn Sie von Knappheiten sprechen?

Es gab in den vergangenen Monaten ganz unterschiedliche Knappheiten, abhängig davon, was der Auslöser war. In Europa sind momentan energieintensive Produkte sehr knapp. Damit reduzieren sich auch die Mengen der Beiprodukte signifikant. Salzsäure ist so ein Beispiel, die hat plötzlich an vielen Stellen gefehlt. Dadurch entstanden ganz neue Warenströme. So haben wir erstmals Salzsäure länderübergreifend etwa von Irland nach Deutschland transportiert. Bisher war das nicht wirtschaftlich, da die Transportkosten hoch sind.

Inwieweit bereitet Ihnen die Energiekrise Sorgen?

Die Energiekrise betrifft uns als Distributeur nicht direkt, da unser Tagesgeschäft und unsere Prozesse nicht sehr energieintensiv sind, ganz im Gegensatz zu Chemieproduzenten. Uns beschäftigen eher die sekundären und tertiären Effekte. Mit Knappheiten sind wir sowohl auf der Lieferanten- als auch auf der Abnehmerseite konfrontiert. An dieser Stelle ist es für uns hilfreich, dass wir breit aufgestellt sind und über viele internationale Beschaffungsquellen verfügen. Unser Geschäft ist es, große Mengen einzukaufen und in kleineren Losgrößen an eine breite Kundenbasis weiterzuverkaufen. Wir stellen die Verfügbarkeit sicher, bis zur letzten Meile.

Sind Sie Profiteur der Energiekrise?

Uns als Profiteur zu bezeichnen, halte ich für falsch. Wir schaffen es, in diesen unsicheren Zeiten Angebot und Kundenbedarf zusammenzubringen und Versorgungslücken zu schließen. Für unsere Mitarbeitenden ist das Tag für Tag sehr harte Arbeit und verlangt ihnen viel ab.

Ich will Ihre Leistung gar nicht kleinreden.

Tatsache ist, dass Brenntag mit Volatilität gut umgehen kann – sowohl mit Preisvolatilität als auch mit Produktknappheiten. Deswegen haben wir die diversen Krisensituationen gut gemeistert.

Umgekehrt dürfte ein massiver Nachfrageeinbruch oder gar eine Rezession auch Brenntag berühren.

Das stimmt, aber auch im Abschwung gibt es Industrien, denen es gut geht. In den meisten unserer Life-Sciences-Branchen wie Nahrungsmittel oder Pharma läuft es beispielsweise gut. Zugleich gibt es Branchen, die wie etwa der Bau bereits jetzt Schwierigkeiten haben. Das hat sich im dritten Quartal schon gezeigt. In unserem Spezialitätengeschäft war Material Science im Vergleich schwach. Aber dadurch, dass wir nicht auf eine Industrie fokussiert sind, können wir das gut kompensieren.

Wird sich der Abschwung vor allem im Geschäft mit Basischemikalien (Essentials) niederschlagen?

Dadurch, dass wir Kunden in so vielen verschiedenen Industrien beliefern – Essentials liefert auch in die Life Science-Bereiche und versorgt beispielsweise die Nahrungsmittelindustrie mit Reinigungschemikalien –, ist die Lage dort nicht per se schwieriger. Wir sind zuversichtlich, auch im wirtschaftlichen Abschwung neue Absatzmärkte erschließen zu können, zumal wir uns im Geschäft mit Industriechemikalien geographisch breiter aufstellen und die globale Beschaffung stärker in den Fokus nehmen wollen. Darin liegt für uns eine Chance. Die Lieferfähigkeit hat für Kunden im Essentials-Bereich eine hohe Priorität.

Sie haben sich als zuverlässiger Lieferant profiliert. Dabei dürfte der Preis für Produkte, auf die es ankommt, eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Wird sich das in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten ändern?

Unsere Kunden und Lieferanten haben gesehen, dass wir zuverlässig sind und Probleme lösen können. Das zeigte sich am Beispiel der Salzsäure. Dort haben wir auch alternative Quellen aufgetan. Unsere Zuverlässigkeit hat sich herumgesprochen, denn wir haben geliefert, wo andere es nicht konnten. Dadurch haben wir neue Kunden gewonnen.

Inwieweit achten Sie bei der Kundenakquise darauf, aus welcher Branche ein Kunde kommt, um den Aufbau von Abhängigkeiten zu minimieren?

Wir haben etwa 200.000 Kunden und vertreiben über 10.000 verschiedene Produkte und Inhaltsstoffe. Wir sind sowohl auf der Lieferanten- als auch auf der Kundenseite breit diversifiziert. Hinzu kommt unsere globale Aufstellung. Während die wirtschaftliche Stimmung in Europa derzeit eher verhalten ist, sieht es in Amerika anders aus. In Nord- und Lateinamerika erwirtschaftet Brenntag mehr als die Hälfte der Bruttoerlöse. In Europa sind es weniger als 50 %. Das sind alles Faktoren, die uns nicht in die Abhängigkeiten bringen, mit denen andere derzeit konfrontiert sind.

Die deutsche Chemieindustrie hat die Produktion im dritten Quartal gedrosselt. Wie macht sich das bei Ihnen bemerkbar?

Wir sehen das sehr stark in der Zusammensetzung unserer Geschäfte und in Europa sehen wir auch eine Volumendelle in der Nachfrage. Zugleich gibt es jene Knappheiten, die sich auch durch Produktionsdrosselung ergeben, was zu steigenden Preisen führt. Dadurch ist unser europäisches Geschäft im dritten Quartal spürbar gewachsen. Von daher lässt sich aus einem Mengenrückgang nicht folgern, dass sich unser Geschäft abschwächt.

Das Geschäftsmodell von Brenntag ist auf Globalisierung ausgerichtet. Was passiert, wenn sich Tendenzen zur De-Globalisierung verstärken?

Die Globalisierung hat zwei Aspekte. Zum einen ist entscheidend, wie man in den einzelnen Ländern aufgestellt ist. Zum anderen gilt es sicherzustellen, dass mit den Handelsströmen flexibel agiert werden kann.

Das müssen Sie erklären.

Wir haben den Vorteil, dass wir überall in der Welt lokal stark vertreten sind. Dadurch können wir unsere Kunden auch auf der letzten Meile beliefern. Da wir aber zugleich global aufgestellt sind, können wir die weltweiten Handelsströme gut nutzen, um Produkte zwischen den einzelnen Regionen auszubalancieren und Engpässe auszugleichen.

Das heißt in Asien einkaufen, die Produkte in die USA bringen und dort lokal verkaufen.

Genau. Wir können die regionalen und globalen Ungleichgewichte sehr gut überwinden. Ein Beispiel ist Natronlauge. Diese bringen wir aktuell von Amerika nach Europa, weil es in Europa bei diesem Standardprodukt einen riesigen Preissprung gab. Der Grund: Auch Natronlauge ist ein Nebenprodukt, das in anderen Produktionsprozessen anfällt.

Sie haben jetzt für die beiden Segmente unterschiedliche Strategien festgelegt. Können Sie das erläutern?

Das, was ich gerade beschrieben habe, gilt im Wesentlichen für Brenntag Essentials, unser Geschäft mit Basischemikalien. Dort nutzen wir unser globales Beschaffungsnetz. Zugleich wollen wir uns mit Essentials in den Schwellenländern noch besser positionieren. Dort haben wir noch ein paar weiße Flecken auf der Landkarte. Dazu gehört auch, dass wir uns an strategisch wichtigen Häfen wie Houston oder Singapur stärker aufstellen, um die interkontinentalen Handelsströme besser zu nutzen.

Was heißt in diesem Zusammenhang stärker aufstellen?

Es geht um Kapazitätserweiterung und -sicherung, sei es durch den Kauf von Tank-Farmen oder deren Anmietung, um die Schiffe direkt zu entladen. Von dort werden die lokalen Standorte beliefert. Das sichert die Beschaffung ab und erhöht zugleich die Effizienz in der dezentralen Lagerbefüllung.

Was haben Sie bei Specialties vor?

Bei Brenntag Specialties geht es darum, den Serviceanteil im Hinblick auf Veredelung, Formulierung und Innovation auszubauen. Hier verstehen wir uns als Partner unserer Kunden. Stellen sie sich einen kleinen Kosmetikanbieter vor, der möchte, dass seine Creme schneller in die Haut einzieht. Wir können helfen, da wir dank unseres Zulieferernetzwerks die passenden Produkte in den gewünschten Abgabemengen liefern. Hierfür haben wir unsere Anwendungszentren. Bei Specialties geht es also um mehr als den Transport der Inhaltsstoffe von A nach B.

Heißt das, dass Sie bei Essentials eher zentralisiert arbeiten, während sie bei Specialties dezentral agieren?

Auch bei Specialties ist es so, dass wir das vorhandene Branchenwissen global einsetzen. Umgekehrt gilt auch bei Essentials, dass die letzte Meile ein sehr lokales Thema ist.

Wo liegt die Herausforderung auf der letzten Meile?

Da geht es vor allem um die Verfügbarkeit der Produkte und deren verlässliche, zeit- und preisgerechte Lieferung. Auch die Preisfindung ist ein sehr lokales Thema.

Was hat es mit der Digitalplattform auf sich, die Sie jetzt im Rahmen der Strategie aufbauen wollen?

Die digitale und datenbasierte Transformation besteht aus drei Elementen. Erstens wollen wir das Unternehmen sein, mit dem es am einfachsten ist, Geschäfte zu machen. Die Prozesse müssen für unsere Mitarbeitenden und Geschäftspartner so mühelos sein, dass sowohl die Bestellung als auch die Orderbearbeitung mit wenigen Mausklicks möglich ist. Die digitale Nachverfolgung von Bestellungen und Lieferungen ist hier ein Beispiel, was die Zahl der Nachfragen in den Kundencentern reduzieren würde. Zweitens wollen wir unsere IT-Infrastruktur und unsere Systeme professionalisieren und skalierbar machen. Und drittens wollen und werden wir mehr aus unseren Daten machen.

Was meinen Sie damit?

Wir haben einen großen Datenfundus, weil wir quasi die Schnittstelle zwischen Lieferanten und Kunde sind und dadurch über sehr fundiertes Wissen über die Handelsströme verfügen. Damit können wir Entwicklungen und Trends frühzeitig erkennen.

Heißt das, Sie wissen vor allen anderen, wenn sich Knappheiten aufbauen?

Wir sehen Frühindikatoren sehr schnell. Und wir handeln entsprechend. Denken Sie an Nachhaltigkeitsdaten. Heute will jeder Kunde wissen, welchen CO2-Fußabdruck die Produkte haben, die er von uns bezieht. Das kann sehr kleinteilig sein, aber wir können diese Informationen liefern und damit ein eigenes Geschäftsmodell aufbauen.

Ist das der Grund für die Zusammenarbeit mit Amazon Web Services?

Beim Ausbau unserer digitalen Infrastruktur geht es im Wesentlichen darum, dass wir nicht alles neu erfinden, sondern uns auf bewährte Systeme und globale Spezialisten als Partner stützen wollen. Wir haben gerade auch eine Kooperation mit Salesforce angekündigt.

Verbinden Sie mit der Digitalisierung auch den Abbau von Stellen?

Wir wollen effizienter werden, keine Frage. Und dabei kann Digitalisierung helfen. Aber Stellenabbau ist damit nicht verbunden. Wir haben uns ambitionierte Wachstumsziele gesteckt und wollen Marktpotenziale ausschöpfen. Wir gehen davon aus, freiwerdende Kapazitäten umwidmen zu können, und wollen gezielt die digitalen Fähigkeiten unserer Mitarbeitenden mit Schulungen aufbauen.

Sie haben das M&A-Budget auf jährlich 400 bis 500 Mio. Euro verdoppelt. Wo liegt der Fokus regional und gibt es Präferenzen für die einzelnen Segmente?

Wir haben für beide Divisionen dezidierte Wachstumsstrategien mit verschiedenen Schwerpunkten aufgesetzt. Die Akquisitionen müssen in diese Strategien passen. Geographisch geht es um Schwellenländer, allen voran in Asien-Pazifik. Wir haben aber auch bei bestimmten Märkten und Industrien, vor allem bei Specialties, noch Lücken. Und letztlich geht es auch um technisches Know-how, das wir zukaufen wollen. Der Fokus in Bezug auf Industrien liegt vor allem auf dem Bereich Life Science, weil diese Branchen resilienter sind.

Laufen Sie mit der Strategie nicht Gefahr, frühere Fehler zu wiederholen? In der Vergangenheit hat Brenntag viele kleine Firmen gekauft, die Integration aber offenbar nur halbherzig betrieben.

Heute haben wir mehr Konsequenz und Struktur in der Integration. Das betrifft die IT-Systeme ebenso wie die Art der Zusammenarbeit. In der Vergangenheit konnte es vorkommen, dass eine Einheit ein neues Lager gebaut hat, weil das vorhandene voll war, obwohl der nur wenig entfernte Nachbarstandort noch freie Kapazitäten hatte. Da sind wir jetzt auf einem deutlich besseren Weg.

Ihr Markt ist stark fragmentiert. Mit einem Marktanteil von 5 % sind sie Marktführer. Damit dürfte der Selektion der M&A-Ziele eine ganz große Bedeutung zukommen.

Das ist richtig. Nicht alles passt und nicht alles ist finanziell sinnvoll. Daher gilt trotz der Verdoppelung des jährlichen M&A-Budgets, dass wir weiterhin sehr diszipliniert vorgehen.

Brenntag hat seit dem Börsengang 2010 jedes Jahr eine höhere Dividende gezahlt. Die Ausschüttungsquote liegt zwischen 35 und 50 %. Was ist aus Ihrer Sicht wichtiger, Dividendenkontinuität oder eine fixe Quote?

Dividendenverlässlichkeit, und damit insbesondere Dividendenkontinuität und -wachstum, ist wichtig. Wir haben die Quote nicht genannt, um jedes Jahr davon abzuweichen. Aber wir schauen uns das natürlich regelmäßig an.

Bis 2045 wollen Sie klimaneutral wirtschaften. Heißt das im Umkehrschluss nicht automatisch, dass sie perspektivisch mit der Öl- und Gasindustrie keine Geschäfte mehr machen dürfen und auch keine petrochemischen Produkte mehr vertreiben können?

So schwarz-weiß ist dieser Markt nicht. Aber dass sich dieser Geschäftsbereich weiter reduziert, ist richtig. Es geht uns jetzt auch darum, alternative Wege und nachhaltigere Produkte für unsere Kunden zu finden, beispielsweise in der Kreislaufwirtschaft oder in alternativen Produktionsformen.

Sie erwarten aber nicht, dass sie künftig manche Produkte gar nicht mehr verkaufen dürfen?

In Europa gibt es bereits heute Listen von Chemikalien, die nicht mehr verkauft werden dürfen – unabhängig von deren CO2-Gehalt. Eine sich daraus ergebende Frage ist, ob wir die Produkte nur in Europa oder weltweit aus dem Programm nehmen. Und ja, unser Portfolio wird sich ändern.

Das Interview führte

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