Gewerkschaften

Coronakrise wirbelt Tarifrunden durcheinander

Die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst und im Einzelhandel lassen ihre Krisen-Zurückhaltung hinter sich. Die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale wächst derweil.

Coronakrise wirbelt Tarifrunden durcheinander

Die Coronavirus-Pandemie hat in der deutschen Wirtschaft vieles durcheinandergebracht. Während der Arbeitsmarkt sich erholt und Dienstleister und Industriebetriebe besser gelaunt sind, ist es um die Stimmung der Tarifangestellten nicht allzu gut bestellt. Tarifrunden wurden vertagt, abgesagt oder fielen deutlich unterhalb dessen aus, was viele nicht zuletzt angesichts der jüngst rasant gestiegenen Verbraucherpreise als angemessen erachten.

Die aktuellen Forderungen in vielen Branchen lassen die Arbeitgeber denn auch schwer schlucken: Für den öffentlichen Dienst fordern der Deutsche Beamtenbund (DBB) und die Gewerkschaft Verdi eine Lohnsteigerung von 5%. Im Einzelhandel kämpfen die Beschäftigten für 4,5% mehr Lohn. Nach drei ergebnislosen Runden ziehen zudem ab kommender Woche die Beschäftigten der Sparda-Banken für 3,5% mehr Lohn in den Streik. Und selbst über die Gewerkschaft der Lokführer (GdL) wird lautstark geschimpft, dabei fordert diese erst einmal nur 1,4% mehr Lohn in diesem Jahr und 1,8% im kommenden Jahr, dazu eine einmalige Corona-Prämie von 600 Euro.

Die steigende Inflation unterstützt die Forderungen der Gewerkschaften. Ebenso wie die Daten, die das Statistische Bundesamt (Destatis) am Montag veröffentlichte: Demzufolge sind die Tarifverdienste in Deutschland im zweiten Quartal um durchschnittlich 1,9% gegenüber dem Vorjahresquartal gestiegen. Der Anstieg lag ohne Sonderzahlungen im Vorjahresvergleich bei 1,4%. Im selben Zeitraum stiegen die Verbraucherpreise um 2,4%. Den Angestellten bleibt damit am Ende des Monats inflationsbereinigt weniger im Geldbeutel.

Kein reales Lohnplus

Und das Ende der Fahnenstange ist bei den Verbraucherpreisen noch nicht erreicht. Am Montag meldete Destatis einen Anstieg der Inflation auf den höchst Stand seit fast 28 Jahren: Um 3,9% verteuerten sich Waren und Dienstleistungen im August verglichen mit dem Vorjahresmonat. Ökonomen erwarten, dass die Teuerungsrate in den kommenden Monaten zumindest temporär auf bis zu 5% steigen könnte. Das käme dann – zumindest kurzfristig – etwa im öffentlichen Dienst angesichts der aktuellen Forderungen einer Nullrunde gleich.

Viele Arbeitgeber berufen sich ihrerseits auf die Auswirkungen der Coronakrise, die sie viel Geld gekostet hat. Für die Industrie war die Pandemie insbesondere zu Beginn teuer aufgrund weitreichender Stilllegungen. Die Dienstleister müssen seit eineinhalb Jahren wochenlange Schließungen sowie teure Hygienemaßnahmen hinnehmen. Auch der öffentliche Sektor gab auf der einen Seite viel Geld aus, um Coronahilfen zu bezahlen, und hatte zugleich mit Steuerausfällen zu kämpfen. 

Zudem hatten sich die Gewerkschaften im vergangenen Jahr in Zurückhaltung geübt, wie aus den aktuellen Daten von Destatis hervorgeht. Viele Arbeitgeber dürften gehofft haben, dass die Krisenbedingungen den Gewerkschaften einen aktiven Kampf für mehr Gehalt oder bessere Arbeitsbedingungen er­schweren dürften. Das mag im vergangenen Jahr noch gegolten haben, 2021 sieht es aber besser aus. Angesichts der anziehenden Konjunktur sehen viele Gewerkschafter keinen Anlass mehr für Bescheidenheit.

Gefahr: Lohn-Preis-Spirale

Die Befürchtung, dass sich aus den Forderungen der Gewerkschaften angesichts einer steigenden Teuerungsrate eine Lohn-Preis-Spirale ergeben wird, dürfte sich aber mittelfristig nicht bewahrheiten. Die womöglich steigenden Gehälter im öffentlichen Dienst würden ohnehin aus Steuern oder Schulden bezahlt und gelten daher nicht als Treiber einer temporär ohnehin hohen Inflation und damit einer Lohn-Preis-Spirale. Allerdings stehen im kommenden Jahr Tarifverhandlungen in der größten Tarifbranche, der Metall- und Elektroindustrie, an. Das dürfte insbesondere deshalb interessant werden, da die Metaller in der vergangenen Runde auf signifikant höhere Löhne verzichteten, sich stattdessen Einmalzahlungen und flexiblere Arbeitszeiten sicherten. Als Risiko kommt hinzu, dass die Verhandlungen im Einzelhandel, der zweitgrößten Tarifbranche, die im ersten Halbjahr erst begonnen haben, noch nicht abgeschlossen sind.

Ökonomen wie Hagen Lesch, Tarifexperte beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW), erwarten, dass die Tarifforderungen eher noch steigen werden – und mit ihnen auch die Bereitschaft zum Arbeitskampf. Die Coronakrise mit ihren vielfältigen Folgen hat demnach auch die Lohnverhandlungen auf längere Sicht durcheinandergewirbelt.