Lars Feld

„Das 60-Prozent-Kriterium hat eine Ankerwirkung“

Der Freiburger Ordnungsökonom Lars Feld plädiert dafür, bei der Reform der EU-Fiskalregeln am 60-%-Schuldenkriterium festzuhalten. Für neue Flexibilität in den Regeln sollte bestehende Flexibilität weichen.

„Das 60-Prozent-Kriterium hat eine Ankerwirkung“

Andreas Heitker und Angela Wefers.

Herr Prof. Feld, in Prag hat Kanzler Olaf Scholz zur Reform der EU-Fiskalregeln mehr Verbindlichkeit beim Schuldenabbau gefordert, aber auch Flexibilität für Wachstum. Stimmt die Balance?

Wir haben heute schon verbindliche Regeln. Das Problem ist das Kleingedruckte im Stabilitätspakt. Damit ist zu viel Flexibilität in die Regeln gekommen. Der EU-Kommission gibt dies bei der Haushaltsüberwachung viel Interpretationsspielraum. Deswegen werden die Fiskalregeln rechtlich gesehen fast nie verletzt. Aber natürlich sind die numerischen Regeln häufiger verletzt worden. Besonders die Schuldenobergrenze von 60% wurde nicht durchgesetzt.

Anders als etwa ESM-Chef Klaus Regling ist die Bundesregierung gegen eine Erhöhung dieses 60-%-Kriteriums. Scheut sie eine Änderung der EU-Verträge?

Es ist unklar, ob es dafür wirklich eine Vertragsänderung braucht. Klaus Regling hält diese nicht für erforderlich. Das 60-%-Kriterium hat aber eine Ankerwirkung. Und diese geht ebenso wie beim 3-%-Defizitkriterium in beide Richtungen. Würde die Obergrenze auf 100% erhöht, würde der Druck zu höheren Schulden in Deutschland oder den Niederlanden zunehmen. Die Schuldenquote ist wichtig für die Schuldentragfähigkeit. Und sie ist wichtig als Signal an die Finanzmärkte.

Möglicherweise wird die 1/20-Regel – der Abbaupfad für zu hoch verschuldete Länder – aufgegeben. Auch Deutschland ist dafür. Weichen die Regeln der Realität?

Die deutsche Position ist moderat konservativ. Sie hält ziemlich stark am Status quo fest – mit Blick auf die Kennzahlen, aber auch auf die Bindungswirkung der Regeln. Es ist ebenso klar, dass die 1/20-Regel für Euro-Länder wie Griechenland, Italien, Frankreich, Spanien und noch andere schwierig einzuhalten ist. Die zu hohen Schuldenstände werden zwar nicht linear über 20 Jahre in Richtung 60% abgebaut, vielmehr verläuft die Anpassung asymptotisch. Das damit verbundene Front Loading ist für die genannten Länder gleichwohl kaum machbar.

Wäre ein moderaterer Abbaupfad für die hoch verschuldeten Länder sinnvoll – etwa eine 1/40-Regel?

Das wäre reiner Pragmatismus wie schon beim Maastricht-Vertrag. Man schaut auf den Status quo – und legt danach die Regeln fest. Das halte ich nicht für hinreichend. Diejenigen, die Erleichterungen haben wollen, sollten hingegen Vorschläge für einen bindenden Abbau der Staatsschuldenquoten im Zeitablauf machen, die dann tatsächlich durchgesetzt werden können.

Plädieren Sie für individuelle Schuldenabbauziele, die jeweils bilateral verhandelt werden?

Nein. Das ist ein Vorschlag der EU-Kommission. Sie würde damit den größtmöglichen Handlungsspielraum er­halten. Es muss keine speziellen Einzellösungen geben, sondern es könnte ein Mechanismus sein, der auch für andere Länder gilt. Klar ist aber: Italien ist der Fixpunkt, um den es in der Debatte im Wesentlichen geht.

Welcher Punkt ist in der Reformdebatte am wichtigsten?

Wenn ich mir die Wünsche der einzelnen Staaten anschaue, wäre ich schon froh, wenn die Regeln nicht noch stärker aufgeweicht würden. Es steht in den nächsten Monaten ein politischer Kuhhandel an. Und es wäre gut, wenn im Gegenzug zu neuen Flexibilisierungen andere bereits existierende Flexibilisierungen wieder gestrichen würden. Außerdem sollte es bindende Regeln für den Abbau der Schuldenquote geben.

Bei den neuen Flexibilisierungen sprechen Sie Ausnahmen für bestimmte Investitionen an?

Ja, zum Beispiel wünscht Frankreich sich die Goldene Regel. Und wenn das nicht möglich sein sollte, sollten zumindest Investitionen in den Klimaschutz von der Verschuldung ausgenommen werden. Aus französischer Perspektive wären das auch die Milliardeninvestitionen in die Atomkraftwerke. Die deutsche Position beinhaltet durchaus mehr Flexibilität. Im Gegenzug sollten meines Erachtens dann andere Flexibilitäten in den Regeln aufgegeben werden.

Wären Ausnahmen für Investitionen ökonomisch sinnvoll?

Also, ökonomisch sinnvoll finde ich die deutsche Schuldenbremse. Da gibt es keine Diskussionen über die Abgrenzung zwischen Investitionen und anderen Ausgaben. Es ist ohnehin nicht klar, dass Investitionen immer besser sind als Konsumausgaben.

Ist die Berechnung des strukturellen Defizits im EU-Stabilitätspakt interpretationsanfällig?

Das wird sich noch zeigen. Deutschland will Ausnahmetatbestände vereinfachen und streichen. Viele andere in Europa hoffen schon, dass die Bindung an das strukturelle Defizit verschwindet. Die Konjunkturbereinigung würde dann wegfallen oder ganz einfach gestaltet. Das halte ich nicht für sinnvoll.

Die allgemeine Ausweichklausel soll 2023 weiter gelten. Die EU-Fiskalregeln blieben faktisch ausgesetzt. Ein richtiger Weg?

Ich kann damit leben, weil ich die Situation in anderen Mitgliedstaaten kenne. Notwendig war es nicht. Auch in Deutschland zieht die Ausnahmeregel der Schuldenbremse nicht, solange keine Ausnahmesituation vorliegt, die sich der Kontrolle des Staates entzieht. Aber die Entscheidung der Kommission verschafft der Diskussion um die Reform der Fiskalregeln mehr Zeit.

Kanzler Scholz will die Gewissheit geben, dass die Währung sicher und irreversibel sei. Ist sie das?

Das ist ein Blick in die Vergangenheit und bestärkt Draghis „Whatever it takes“. Aktuell fragt man sich eher, wie man bei 10% Inflation den Menschen klarmachen soll, dass wir eine stabile Währung haben. Wie stabil ist die Währung noch angesichts des Wertverlusts des Euro gegenüber Dollar und Schweizer Franken?

Das Interview führten

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