Otmar Issing

„Der Krieg liefert keinen Grund, den Rückzug hinauszuzögern“

Der langjährige Bundesbank- und EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing spricht über Rekordinflation und Stagflationsgefahr im Euroraum, die Herausforderungen für die Euro-Hüter – und über EZB-Fehler in der Vergangenheit.

„Der Krieg liefert keinen Grund, den Rückzug hinauszuzögern“

Herr Professor Issing, am Donnerstag entscheidet die EZB über ihre weitere Geldpolitik, während in Europa Krieg herrscht. Ist das der schwierigste und heikelste Moment für die EZB seit ihrer Gründung im Jahr 1999?

Keine Frage, der Governing Council trifft sich in einer Situation, in welcher der schreckliche Krieg in der Ukraine alle Diskussionen be­herrscht. Niemand kann sich von solchen Gedanken befreien. Und doch dreht sich die Welt weiter, muss es weitergehen. Damit ist jede Institution aufgefordert, sich mit Blick auf die besondere Lage auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Das gilt selbstverständlich auch für die EZB

DDer Krieg dürfte die ohnehin rekordhohe Inflation im Euroraum von 5,8 % weiter befeuern, zugleich ist spürbarer Schaden für die Wirtschaft zu befürchten. Droht jetzt sogar eine Stagflation wie in den 1970er Jahren, also ein Gleichklang aus hoher Inflation und stagnierender Wirtschaft?

Als unmittelbare Folgen des Kriegs und der Sanktionen drohen ein weiterer Anstieg der Inflation und eine Abschwächung der Konjunktur. Verfestigt sich diese Entwicklung, schlittert die Wirtschaft in der Eurozone in eine Stagflation.

Was sollte die EZB in dieser Situation tun? Braucht es ein klares geldpolitisches Signal gegen die hohe Inflation und eine mögliche Lohn-Preis-Spirale oder sollte im Vordergrund stehen, den wirtschaftlichen Schaden durch den Krieg zu minimieren?

Zunächst bedarf es einer nüchternen Analyse der Situation. Der Krieg löst einen Schock auf der Angebotsseite aus. Niemand kann zum jetzigen Zeitpunkt die weitere Entwicklung des Kriegs vorhersehen. Die Wirtschaft des Euroraums befand sich auf einem Kurs deutlicher Erholung, wenn auch immer wieder unterbrochen durch Wellen der Pandemie. Die Arbeitslosigkeit liegt auf dem niedrigsten Stand seit dem Beginn der Währungsunion. Sollte eine angebotsbedingte stärkere Konjunkturabschwächung drohen, ist die Finanzpolitik gefordert.

Und die EZB?

Für die EZB gilt es, den Preisauftrieb in Grenzen zu halten und die Inflation wieder auf ihr Ziel zurückzuführen. Dieser Prozess benötigt Zeit. Umso wichtiger ist es für die Notenbank, keinen Zweifel an der Entschlossenheit für einen stabilitätspolitischen Kurs aufkommen zu lassen. Die Glaubwürdigkeit der Notenbank ist der Anker für die Entwicklung von Löhnen und längerfristigen Zinsen, nicht zuletzt auch für das Vertrauen der Bürger in die Stabilität des Euro.

Ganz konkret gefragt: Sollte die EZB ihre Anleihekäufe in diesem Jahr komplett einstellen, auch um sich die Option für Zinserhöhungen zu schaffen – oder wäre das jetzt der falsche Zeitpunkt für eine solche Entscheidung?

In dieser Phase extremer Unsicherheit wäre es falsch, längerfristige Festlegungen des künftigen geldpolitischen Kurses zu treffen.

Geht es aus Ihrer Sicht jetzt nur um eine Normalisierung der Geldpolitik, also vor allem ein Ende von Sondermaßnahmen wie den Anleihekäufen, oder braucht es eine wirkliche Straffung mit deutlich steigenden Zinsen, um die Inflation herunterzubringen?

Die EZB erhält jetzt die Quittung dafür, dass sie trotz zahlreicher Warnungen den Ausstieg aus der ultraexpansiven Geldpolitik nicht schon längst eingeleitet hat. Der Krieg liefert keinen Grund, den Rückzug aus den massiven Anleihekäufen noch weiter hinauszuzögern. Man muss sich vorstellen – die EZB ist bis heute nicht aus dem nach der Finanzmarktkrise eingeleiteten Krisenmodus herausgekommen. Sie hat unbeirrt an Inflationsprognosen festgehalten, die ganz offensichtlich nicht in der Lage waren, die Preisentwicklung richtig einzuschätzen.

Einige Notenbanker argumentieren, dass es im Zweifelsfall besser sei, die Geldpolitik etwas zu spät zu straffen statt zu früh. Wie beurteilen Sie die Einschätzung?

Nach wie vor spielt die EZB die Inflationsgefahr herunter. Bis vor kurzem war ihre Hauptsorge, die Inflationsrate könnte schon bald wieder zu niedrig ausfallen. Die unterschiedlichen Erfahrungen der Fed und der Bundesbank mit der Stagflation Ende der 1970er Jahre sollten als Warnung genügen: Scheut die Notenbank davor zurück, den Preisanstieg frühzeitig zu begrenzen, wird das unvermeidliche spätere, starke Bremsen zu einem umso höheren Konjunktureinbruch führen. Während in Deutschland in den 1970er Jahren dank der vorausschauenden Politik der Bundesbank Preissteigerung und Wirtschaftsrückgang noch vergleichsweise moderat ausfielen, erreichte die Inflationsrate in den USA zweistellige Werte, die Fed erhöhte schließlich ihren Zins auf 20 %. Es folgte eine tiefe Rezession.

Als Argument gegen eine rasche Zinswende wird auch immer wieder angeführt, dass die EZB auch 2008 oder 2011 mit Zinserhöhungen falschgelegen habe und daraus Lehren ziehen müsse. Ist der Einwand berechtigt?

Ich sehe nicht, dass man aus den damaligen Entscheidungen für die jetzige Situation sinnvolle Lehren ziehen kann. Schon gar nicht die Schlussfolgerung, die Notenbank solle selbst einen starken Anstieg der Inflation ignorieren.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat unlängst dafür plädiert zu untersuchen, ob eine Finanzierung von Staatsdefiziten durch die Notenbank nicht in manchen Situationen Sinn machen kann – und damit an einem geldpolitischen Tabu gerüttelt. Braucht es einen Neuansatz im Verhältnis von Geld- und Fiskalpolitik?

Hier handelt es sich um ein komplexes Thema. Ich denke, die angesprochene, vom IWF veröffentlichte Studie wird diesem Anspruch nicht gerecht.

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