Im InterviewErik Nielsen

„Die EZB hat die Zinsen zu stark angehoben“

Erik Nielsen, chefökonomischer Berater der Unicredit, erklärt im Interview der Börsen-Zeitung, warum er die Geldpolitik der EZB für viel zu straff hält und warum die Notenbank ihr Inflationsziel auf 3 bis 4 Prozent anheben sollte.

„Die EZB hat die Zinsen zu stark angehoben“

„Die EZB hat die Zinsen zu stark angehoben“

Ökonomischer Berater der Unicredit kritisiert die Geldpolitik und blickt optimistisch auf die Entwicklung der Inflation, aber pessimistisch auf die Konjunktur

Erik Nielsen, chefökonomischer Berater der Unicredit, erklärt, warum er die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) für viel zu straff hält, weshalb er pessimistisch auf die Wirtschaftsentwicklung der Eurozone blickt und warum die Notenbank ihr Inflationsziel auf 3 bis 4% anheben sollte.

Herr Nielsen, Sie halten es für sehr wahrscheinlich, dass die EZB die Zinsen im Kampf gegen die hohe Inflation bereits zu stark angehoben hat. Weshalb kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Europa wurde durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie und des Kriegs in der Ukraine von einem gewaltigen Rohstoffpreisschock getroffen, der die Inflation deutlich steigen ließ und dadurch das Realeinkommen der Menschen stark reduziert hat. Infolgedessen hat sich die Wirtschaft seitdem nie erholt. Der Inflationsschock veranlasste die EZB – zu Recht – dazu, die Zinssätze anzuheben, auch um die Gefahr einer Preis-Lohn-Spirale zu senken. Aber dieses Risiko wurde Ende letzten Jahres oder spätestens Anfang dieses Jahres praktisch beseitigt.

Dann hätte die EZB aufhören sollen, die Zinsen anzuheben, anstatt die Wirtschaft stark zu bremsen. Die Kreditnachfrage des Unternehmenssektors – wie die jüngste Bank Lending Survey der EZB gezeigt hat – ist bereits auf den niedrigsten Stand aller Zeiten gesunken. Mit anderen Worten: Es besteht kaum Aussicht, dass die Wirtschaft bei so hohen Zinsen wieder auf Wachstumskurs kommt. Es gibt also längst keinen Nachfrageüberschuss mehr, den die EZB beseitigen müsste. Sie hat die Zinsen zu stark angehoben.

Die Inflation in der Eurozone sinkt seit ihrem Höhepunkt im Oktober zwar beständig, liegt mit 5,3% aber weiterhin deutlich oberhalb des Zielwerts der EZB von 2%. Sie gehen davon aus, dass das Inflationsziel bald erreicht ist?

Sofern wir keine weiteren Schocks erleben, besteht eine gute Chance, dass wir bereits Ende nächsten Jahres die Marke von 2% erreichen. Bis Anfang 2025 dürfte die Inflation wahrscheinlich sogar etwas unterhalb dieses Werts liegen.

Mit einer weiteren Zinserhöhung würde es sogar noch etwas schneller gehen. Aber: Es würde nichts Gutes bringen, wenn die EZB versuchen würde, diesen Weg zu beschleunigen. Die Kosten für Wachstum, Beschäftigung und Einkommen stünden in keinem Verhältnis zu den potenziellen Vorteilen, die sich daraus ergeben würden.

Andere Ökonomen gehen von einem anderen Szenario aus. Sie argumentieren, dass die Inflationsrate bis Ende 2023 zwar deutlich sinkt, aber im kommenden Jahr wieder ansteigt, da die Raten dann nicht mehr mit den Werten von 2022 verglichen werden – einem Jahr, in dem die Inflation unter anderem wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine durch die Decke ging. Was entgegnen Sie dem?

Das ist ein extrem unwahrscheinliches Szenario, abgesehen von möglichen statistischen Schwankungen in einzelnen Monaten. Es gibt 2024 keinen zusätzlichen Preisdruck. Das Realeinkommen ist stark komprimiert und es ist auch kein Investitionswachstum erkennbar.

Die Kerninflation, die als Indikator für den mittelfristigen Inflationstrend gilt, ist jedoch hartnäckig hoch.

Normalerweise ist die Kerninflation ein wichtiger Input für die Gesamtprognose, aber was Sie jetzt dort sehen, ist die Auswirkung von zwei Dingen. Erstens zeigt sich hier die verzögerte Wirkung der höheren Rohstoffpreise. Wenn zum Beispiel die Benzinpreise steigen, klettern irgendwann auch die Taxipreise. Zweitens wirken bei der Kernrate noch die inzwischen weitgehend abgeklungenen Lieferkettenprobleme nach. Was die Kerninflation angeht, können wir im Moment völlig entspannt sein, denn es gibt keinen Nachfrageüberschuss in der Wirtschaft. Sowohl bei den Rohstoffpreisen als auch bei den Lieferketten gibt es eine deutliche Entspannung.

In einer Analyse für die Unicredit haben Sie geschrieben: „Es gibt nichts, was eine Zentralbank tun kann, um die durch einen Angebotsschock verursachte Inflation zu bekämpfen.“ Warum kommen Sie zu dieser Schlussfolgerung?

Ein Schock kommt per Definition plötzlich und ist unvorhersehbar, und wenn er sich nicht mit neuen und zusätzlichen Schocks wiederholt, ist er im Grunde genommen statistisch betrachtet innerhalb eines Jahres abgefrühstückt. Im Gegensatz dazu ist die Wirkung geldpolitischer Änderungen verzögert, so dass ein kleiner Teil nach etwa neun Monaten einsetzt, der weitaus größere jedoch erst nach 12 bis 18 Monaten. Dann ist fast der gesamte Schock vorbei, abgesehen von Zweitrundeneffekten, wie beim aufgeführten Benzinpreisbeispiel. Was nützt es also, die Bevölkerung mit zusätzlichen Kosten zu treffen, wenn die Effekte des Schocks bereits nachlassen?

Glauben Sie denn, dass die Inflation auch ohne Zinserhöhungen in dem Maße gesunken wäre, wie wir es in den vergangenen Monaten gesehen haben?

Ja, mit ziemlicher Sicherheit. Wie gesagt, die Geldpolitik wirkt mit einer Verzögerung von 12 bis 18 Monaten und funktioniert dadurch, dass Zinserhöhungen die Nachfrage verlangsamen, was dann die Inflation dämpft. Allerdings hat die EZB erst vor zwölf Monaten begonnen, die Zinsen anzuheben. Mit anderen Worten: Der bisherige Rückgang der Inflation ist ausschließlich auf den Basiseffekt des Schocks zurückzuführen. So schlicht und einfach ist das.

Und jetzt kommen die Auswirkungen der höheren Zinsen, die die Nachfrage bremsen und den letzten Abschnitt des Inflationsrückgangs von 5,5% auf 2% um vielleicht zwei bis drei Monate beschleunigen werden. Aber dieser etwas schnellere Rückgang der Inflation wird mit hohen Kosten für Wachstum und Einkommen verbunden sein und praktisch keine positiven Auswirkungen haben, weil es für die Realwirtschaft keine Rolle spielt, ob wir in einem Jahr oder in 15 bis 18 Monaten die 2% erreichen.

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Sie sprechen sich offensichtlich für keine weitere Zinserhöhung im September aus. Wie sollte bis dahin und auch nach dem Zinsentscheid die Kommunikation der EZB aussehen? Die Erwartung einer baldigen Lockerung würde die bisherige Geldpolitik konterkarieren.

Die EZB macht jetzt kommunikativ das Richtige. Sie sagt, dass sie noch nicht weiß, was sie als Nächstes tun wird. Was die Einpreisung zukünftiger Zinssenkungen betrifft, glaube ich nicht, dass sie irgendetwas tun kann – oder sollte. Dieser Zug hat den Bahnhof bereits verlassen. Die einzige Möglichkeit, die Märkte daran zu hindern, eine Zinssenkung einzupreisen, wäre gewesen, die Zinserhöhungen so früh einzustellen, dass die Märkte im Durchschnitt eine Zinserhöhung beim nächsten Zinsschritt für genauso wahrscheinlich halten wie eine Zinssenkung.

Die Märkte spekulieren bereits darauf, dass die erste Zinssenkung Anfang 2024 erfolgen könnte. Wie gefährlich ist es für die EZB, wenn bereits jetzt auf Zinssenkungen in der mittleren Zukunft spekuliert wird?

Nicht gefährlich. Ich finde es sogar gut, weil es die Effekte einer Geldpolitik, die bereits viel zu straff ist, etwas abmildert.

Wie lange sollte die EZB aus Ihrer Sicht das erreichte Zinsniveau halten?

Bis September! Dann sollte die EZB mitteilen: „Wir sind uns darüber im Klaren, dass die wirtschaftlichen Aussichten viel zu schlecht sind und wir zu fest angezogen haben, also kürzen wir jetzt, bevor der Schaden angerichtet ist.“

Das meine ich natürlich nicht ernst. Aber nicht, weil eine EZB-Zinssenkung im September ein schlechter Schachzug wäre, aber politisch betrachtet kann sie eine solche Entscheidung nicht treffen. Damit würde sie ihren bisherigen Aussagen widersprechen, dass es keine baldige Zinssenkung gibt und die Zinsen länger hoch bleiben müssten, um das 2-Prozent-Inflationsziel zu erreichen. Realistisch gesehen ist die frühestmögliche Kürzung meiner Meinung nach daher Anfang 2024.

Sie halten die Konjunkturprognosen der EZB und des Internationalen Währungsfonds (IWF) für zu optimistisch. Weshalb?

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Eurozone lag im vierten Quartal 2022 bei −0,1%, im ersten Quartal dieses Jahres bei 0,0% und im zweiten Quartal bei 0,3%. Aber ohne das irische statistische Durcheinander wäre das BIP nur um 0,1 bis 0,2% gestiegen. Die Inlandsnachfrage in der Eurozone ist weiterhin unter dem Niveau von Ende 2019! Das bedeutet, dass wir drei Jahre verloren haben, und anstatt einen Aufholprozess zu fördern, treten die politischen Entscheidungsträger auf die Bremse.

Wir stehen nun vor etwa zwölf Monaten, in denen die größte Straffung der Geldpolitik der EZB ihren Höhepunkt erreichen wird und eine gewisse, wenn auch relativ moderate fiskalpolitische Straffung in Aussicht steht. Das sind keine guten Aussichten für die Binnennachfrage. Wenn das Wirtschaftswachstum in den USA und China eher gering ausfällt, was sehr wahrscheinlich ist, wird das BIP der Eurozone bestenfalls ein weiteres Jahr lang bei etwa null verharren.

Der EZB stehen bei der Steuerung der Geldpolitik noch andere Instrumente als nur der Leitzins zur Verfügung. Im Juli hat sie überraschend die Verzinsung für die Mindestreserven der Banken auf 0% gesenkt. Wie beurteilen Sie diesen Schritt?

Dabei handelte es sich um eine technische Anpassung, die keine nennenswerten Auswirkungen auf die Geldmärkte haben wird. Derzeit verfügen die Banken über Überschussreserven in Höhe von 165 Mrd. Euro. Wenn man also davon ausgeht, dass der Einlagensatz ein Jahr lang bei 3,75% bleibt, würde das das Bankensystem insgesamt 6 Mrd. Euro kosten. Das ist natürlich nicht besonders gut für eine Branche, die im Vergleich zu anderen Sektoren bereits mit wettbewerbsfähigen Renditen zu kämpfen hat, aber es ist keine große Zahl für den europäischen Bankensektor.

Über einen stärkeren Abbau der EZB-Bilanz wurde laut Präsidentin Christine Lagarde nicht gesprochen auf der letzten Sitzung. Sollten die Notenbanker hier mehr Tempo machen?

Nein, nicht unbedingt. Es gibt keine Belege dafür, dass eine Bilanzgröße einer Zentralbank besser ist als eine andere, daher sollte jede Änderung hier wirklich von geldpolitischen Überlegungen ausgehen und nicht vom Streben nach einer bestimmten Bilanzgröße. Und wie Sie wissen, glaube ich nicht, dass die Eurozone eine weitere Straffung der Geldpolitik braucht.

Einige Ökonomen gehen davon aus, dass die strukturelle Inflation in Zukunft höher ist als in der Vergangenheit. Beispielsweise, weil in Europa Arbeitskräfte aufgrund des demografischen Wandels knapp werden oder die Preise wegen der notwendigen Transformation der Wirtschaft zu mehr Nachhaltigkeit steigen. Teilen Sie die Einschätzung, dass das Inflationsniveau generell steigt?

Ja, ich halte dies aus den von Ihnen genannten Gründen für eine sehr wahrscheinliche Aussicht, vor allem der Übergang zu einer grünen Wirtschaft, aber auch die De-Risking-Strategie der EU in Bezug auf China erhöhen die strukturelle Inflation.

Sie plädieren also dafür, dass die EZB ihr Inflationsziel anhebt?

Ja, sie sollte es anpassen, auf etwa 3% bis 4%. Der Grund dafür ist, dass wenn die langfristige zugrunde liegende Inflation beispielsweise bei 3,5% liegt, die EZB aber weiterhin 2% anstrebt, dann funktioniert das nur, wenn sie der Wirtschaft dauerhafte Schmerzen – das heißt weniger reales Wachstum – zufügt.

3% bis 4%, wie kommen Sie auf diesen Wert?

Denken Sie zunächst daran, dass das bestehende 2-Prozent-Ziel der EZB nicht auf konkreten Beweisen für irgendetwas basiert. Ich glaube schon lange, dass es zu niedrig ist. Zu nahe bei null, um sich wohlzufühlen. In den Jahren vor dem hohen Anstieg der Inflation gab es daher die Gefahr einer Deflation. Außerdem gibt es bisher keine Wirtschaftsforschung, die gezeigt hat, dass eine Inflationsrate von 4–5% negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum hat.

Infolgedessen hätte ein Ziel von etwas mehr als 2% in der Vergangenheit etwas mehr Spielraum geboten. Da sich die Welt jetzt verändert – Stichwort Demografie, neues Verhältnis zu China und die grüne Transformation – brauchen wir wirklich Investitionsanreize. Das erfordert niedrigere Zinssätze und/oder bessere Steueranreize sowie Raum für relative Preisänderungen. Also wären wir vielleicht bei 4%, mindestens aber bei 3%. Wobei zu berücksichtigen ist, dass ein gutes Inflationsziel besser ein enger Bereich ist als ein Punktziel.

Im Interview: Erik Nielsen

Das Interview führte Martin Pirkl.

Das Interview führte Martin Pirkl.

Zur Person: Erik Nielsen ist chefökonomischer Berater der Unicredit. Zuvor war er deren Chefökonom und Leiter des CIB-Research-Teams. In diesen Rollen war er für die Bildung und Kommunikation der Forschungsansichten der Unicredit zu makroökonomischen und wirtschaftspolitischen Themen verantwortlich.

Bevor er im September 2011 zur Unicredit kam, arbeitete Nielsen 15 Jahre lang als Ökonom bei Goldman Sachs in New York und London, wo er zuletzt als Chefökonom für Europa die europäischen und mittel- und osteuropäischen Wirtschaftsteams leitete. Davor verbrachte der Däne mit einem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften von der Universität Kopenhagen zehn Jahre in Washington und arbeitete als Ökonom für den IWF und die Weltbank in verschiedenen Funktionen, unter anderem als Länderökonom für Russland und die Türkei sowie als Schuldenexperte. Seine Karriere begann er als Ökonom bei der dänischen Zentralbank.