Migration

Durchreisende in der Sackgasse

Seit Jahrzehnten sammeln sich in Nordfrankreich Einreisewillige aus aller Welt, die von den Briten abgewiesen wurden. London hat die Grenzkontrollen nach Calais ausgelagert. Das sorgt dort für Unmut.

Durchreisende in der Sackgasse

Von Andreas Hippin, London

Der ehemalige Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier hat im Streit um die Schuld an der Misere der Migranten im Norden Frankreichs gefordert, den Vertrag von Le Touquet aufzukündigen. Der französische Präsident Emmanuel Macron, dessen Amt Barnier gerne übernehmen würde, verlangte das schon vor fünf Jahren, um dann anzuregen, ihn neu zu verhandeln. Das simple Kalkül der beiden: In der Region rund um Calais ist das Abkommen unbeliebt, weil sich dort seit Jahrzehnten Einwanderungswillige aus aller Welt sammeln, die von den Briten abgewiesen wurden, aber unbedingt ins Vereinigte Königreich wollen.

Vor 18 Jahren war das Thema noch nicht Chefsache. Tony Blair versuchte sein Gegenüber Jacques Chirac damals zur Beteiligung am Krieg im Irak zu bewegen. Den Vertrag, in dem es um vorgezogene Grenzkontrollen geht, die das Reisen durch den Ärmelkanaltunnel so angenehm wie möglich machen sollten, handelte Blairs Innenminister David Blunkett mit einem gewissen Nicolas Sarkozy aus. Das Protokoll von Sangatte von 1991 war ein Vorläufer des Abkommens. Für einen möglichst reibungslosen Transfer sollte die Grenzabfertigung für den Autoreisezug Le Shuttle dort stattfinden, wo die Reise ohnehin unterbrochen werden musste. Fährhäfen und der Eurostar folgten diesem Arrangement. Und so verlegte Großbritannien seine Südgrenze de facto Schritt für Schritt nach Pas de Calais.

Das Dschungelcamp von Calais hatte in Sangatte einen nicht weniger berüchtigten Vorläufer. Dort hatte die französische Regierung in einer leerstehenden Halle der Eurotunnel-Gesellschaft ein Durchgangslager eingerichtet, wo zeitweise 2000 Menschen lebten, die meisten aus Afghanistan und dem Irak, aber auch aus dem Iran und afrikanischen Ländern. Man fühlte sich schon damals nicht für diese Menschen zuständig und behandelte sie als Durchreisende, obwohl sie sich in einer Sackgasse befanden.

Lebensgefährliche Überfahrt

Mittlerweile lassen sich viele von Menschenhändlern mit Schlauchbooten auf den Weg nach England bringen. Wie britische Medien dokumentierten, beschränkt sich die französische Polizei oft auf eine Beobachterrolle, während kriminelle Banden 3 000 Euro pro Kopf und mehr für die Überfahrt fordern. Nachdem mindestens 27 Menschen im Ärmelkanal ertranken, als eines der Boote unterging, hätte es einen Anlass gegeben, gemeinsam eine Lösung zu suchen. Doch Frankreich wollte die britische Innenministerin Priti Patel bei einem Innenministertreffen am Wochenende nicht mit am Tisch haben. Der britische Premier Boris Johnson hatte zuvor in einem öffentlichen Brief an Macron gefordert, Frankreich solle die illegalen Zuwanderer, die es über den Ärmelkanal schaffen, wieder zurücknehmen. Dafür gibt es dort allerdings keinerlei Bereitschaft.

Sollte Paris den Vertrag von Le Touquet wirklich kündigen, könnten die Briten einfach den Bahn- und Fährgesellschaften die Verantwortung für die Kontrolle der Papiere auferlegen. Die Hoffnung, irgendwie doch nach Großbritannien zu kommen, würde dann noch viel mehr Menschen nach Frankreich führen.