Industrie

Furcht vor preis­treibenden Gaseng­pässen wächst

Netzagenturchef Klaus Müller nennt die neuen russischen Sanktionen, die unter anderem Gazprom Germania samt Handel und Speichern treffen, „ein chirurgisches Dekret“. Denn die Netze seien nicht betroffen, und Gazprom könne deshalb weiter liefern.

Furcht vor preis­treibenden Gaseng­pässen wächst

cru Frankfurt

Die neuen Sanktionen Russlands befeuern die Furcht der energieintensiven deutschen Industrie vor einem preistreibenden Gasengpass. Die Regierung in Moskau hat die Erdgaslieferungen an Gazprom Germania jetzt gekürzt – als Vergeltung für westliche Sanktionen wegen des Krieges in der Ukra­ine. Die Deutschland-Tochter des russischen Staatskonzerns war zuvor im April vom Bundeswirtschaftsministerium unter die Treuhand der Bundesnetzagentur gestellt worden. Die Gazprom Germania GmbH und ihre Tochtergesellschaften erhielten nicht mehr alle vertraglich vereinbarten Mengen. Es geht allerdings laut Bundesregierung nur um 3% des deutschen Jahresverbrauchs.

Auch Bundesnetzagenturchef Klaus Müller suchte zu beruhigen: „Es ist ein chirurgisches Dekret.“ Moskau hätte schließlich auch Gazprom Germania und alle ihre Töchter sanktionieren können, was aber nicht geschehen sei. „Man tut das dann, wenn man differenzieren möchte.“ Es seien nur Handels- und Speichertöchter von Gazprom Germania betroffen, nicht aber Netzbetreiber. Russland könne also weiter Gas liefern, nur an andere Händler. Es handele sich um ein „sehr planvolles, präzises Dekret, um weiter mit Deutschland Geschäfte tätigen zu können, aber nicht mehr zu den alten Vertragskonditionen“.

Doch der Energiehandel steht aufgrund der gestiegenen Unsicherheit vor einem Umbruch. Der Ukraine-Krieg hat die Volatilität im Erdgas-Spot-Markt enorm hochgetrieben. Für viele Stadtwerke bedeutet das, dass sie weitaus höhere Sicherungen bei ihren Vertragspartnern hinterlegen müssen als bisher („Margin Calls“). Die Bundesregierung hatte deshalb bereits vor einigen Wochen 100 Mrd. Euro an Liquiditätshilfen über die KfW bereitgestellt.

Der Energiekonzern Uniper prüft noch die Konsequenzen der russischen Sanktionen gegen Gazprom Germania und andere Ex-Töchter des russischen Gaskonzerns. Unklar seien Einzelheiten zum russischen Verbot der Befüllung der europäischen Gasspeicher mit russischem Gas.

Neues Enteignungsgesetz

Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs und des geplanten Ölembargos gegen Russland hat zudem der Bundestag am Donnerstagabend über eine Novelle des Energiesicherungsgesetzes entschieden. Die Re­form des Gesetzes von 1975 soll es erleichtern, Anlagen der sogenannten kritischen Infrastruktur per Treuhand oder im Extremfall per Enteignung unter staatliche Kontrolle zu bringen. Ein Beispiel ist die vom russischen Konzern Rosneft betriebene PCK-Raffinerie im brandenburgischen Schwedt. Die Anlage arbeitet bisher ausschließlich mit russischem Öl, soll aber bald aus alternativen Quellen versorgt werden.

Einige Monate vor dem russischen Krieg gegen die Ukraine traf Rosneft eine strategische Entscheidung. Der russische Staatskonzern kaufte über seine Tochtergesellschaft Rosneft Deutschland weitere Anteile an der PCK-Raffinerie Schwedt, um sie nahezu vollständig zu übernehmen. Nun prüft Wirtschaftsminister Robert Habeck, ob das Geschäft noch zu stoppen ist.

Die russische Regierung hatte am Mittwoch eine Verfügung veröffentlicht, nach der mit 31 aufgelisteten Firmen von russischer Seite keine Geschäfte mehr gemacht werden dürfen. Moskau hat den Handel mit Gazprom Germania und ihren verschiedenen Tochtergesellschaften verboten, die unter der Kontrolle der deutschen Energieregulierungsbehörde stehen. Dazu gehören der Gashändler Wingas, der Gasspeicherbetreiber Astora und der in London ansässige Handelsarm von Gazprom und Europol Gaz, Eigentümer des polnischen Abschnitts der Jamal-Europa-Pipeline, die Russland mit Deutschland verbindet.

Deutschland hatte im April befristet bis zum 30. September die Kontrolle über Gazprom Germania übernommen, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Die meisten Töchter der Gazprom Germania waren unter Druck geraten, nachdem sich Kunden und Geschäftspartner nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine geweigert hatten, mit ihnen Geschäfte zu machen. Dadurch bestand die Gefahr, dass die Eigentümer der wichtigsten europäischen Energieinfrastrukturen finanziell nicht überleben würden. Nach Angaben der russischen Agentur Interfax ist nun nach den neuen russischen Sanktionen das Anlegen von Vorräten mit russischem Gas in den Speichern Europas künftig verboten. Unklar war zunächst, wie ein solches Verbot durchzusetzen wäre. In Deutschland gibt es 47 Untertage­speicher an 33 Standorten, die von rund 25 Firmen betrieben werden. Auf Uniper entfällt rund ein Viertel der deutschen Speicherkapazität.

Großer Gasspeicher betroffen

Der größte Einzelspeicher wird allerdings von der Gazprom-Germania-Tochter Astora betrieben, die unter die neuen Sanktionen fällt. Der Speicher befindet sich im niedersächsischen Rehden. Auf ihn entfällt rund ein Fünftel der deutschen Kapazität. Zuletzt war in dem Rehdener Speicher allerdings kaum Gas gelagert.

Die europäischen Erdgaspreise stiegen am Donnerstag sprunghaft an, da die Unterbrechung einer wichtigen Transitroute durch die Ukraine und der Schritt Moskaus als Vergeltungsmaßnahme gegen westliche Sanktionen das Risiko von Lieferkürzungen erhöht haben. Der Benchmark-Kontrakt stieg zeitweise um 14%, da die Lieferungen aus Russland über die Ukraine am Donnerstag um etwa 30% zurückgingen.

Es ist noch nicht klar, wie sich dies auf die Gesamtverfügbarkeit von Gas in Europa auswirkt, da reichlich Flüssiggas zur Verfügung steht und das wärmere Wetter die Nachfrage dämpft. Aber die Sorge wächst, dass der Konflikt eskalieren könnte.

Auf der russischen Sanktionsliste steht neben dem deutschen Händler Wingas auch die in London ansässige Gazprom Marketing & Trading – ein Schritt, der die LNG-Märkte ins Wanken bringen könnte, da er das Handelsunternehmen daran hindern könnte, russische Ladungen, die derzeit unter langfristigen Verträgen stehen, geliefert zu bekommen.

Das Risiko von Gas-Lieferunterbrechungen kommt gerade zu dem Zeitpunkt, an dem sich eine Lösung für das Problem abzuzeichnen schien, das seit Wochen für Kopfzerbrechen sorgt: Moskaus Forderung nach Rubelzahlungen für sein Gas.

Die Unternehmen zeigten sich zunehmend zuversichtlich, dass sie weiterhin russische Lieferungen beziehen können, ohne gegen die Sanktionen zu verstoßen, und der italienische Ministerpräsident Mario Draghi schien am Mittwoch einen solchen Schritt zu unterstützen.

„Die Entwicklungen sind nur die jüngsten in einer Reihe von stetigen Verschlechterungen der Versorgungssicherheit inmitten des Krieges“, erklärte das New Yorker Beratungsunternehmen Eurasia Group laut Nachrichtenagentur Bloomberg. „Die anhaltenden Unterbrechungen bedeuten daher, dass die EU-Staaten ihre Vorbereitungen auf größere Unterbrechungen der Gaslieferungen aus Russland verstärken.“

Niederländische Kontrakte zur Lieferung von Gas im Juni, die europäische Benchmark, wurden um 11 Uhr in Amsterdam um 12% höher bei 105,51 Euro pro Megawattstunde gehandelt. Das britische Äquivalent stieg um 18%. Auch der deutsche Strompreis legte zu, der Vertrag für Juni stieg um 9,4%.

Nord Stream läuft normal

Selbst wenn Europa versucht, seine Energiequellen zu diversifizieren, wachsen die Sorgen über russische Lieferungen. Netzdaten zufolge schrumpften die Gaslieferungen über die Ukraine am Donnerstag um 30% auf den niedrigsten Stand seit Ende  April.  Die  Lieferungen  über die Nord-Stream-Verbindung nach Deutschland, die größte Pipelineroute von Russland nach Europa, blieben stabil. Die Lieferungen aus Norwegen gingen jedoch zurück.

Der ukrainische Gasnetzbetreiber hat die Annahme von russischem Brennstoff an einem der beiden wichtigsten Einspeisepunkte gestoppt und erklärt, dass man die entsprechende Infrastruktur in den besetzten Gebieten im Osten der Ukraine nicht mehr kontrollieren könne. Gazprom erklärte, dass sie aufgrund der derzeitigen Funktionsweise ihres Systems nicht in der Lage sei, alle Lieferungen auf einen anderen Einspeisepunkt umzuleiten.

In die Station Sochraniwka an der ukrainischen Grenze floss am Donnerstag schon den zweiten Tag kein russisches Gas mehr. Sochraniwka hatte vor dem Stopp etwa ein Drittel der russischen Gasströme durch die Ukraine abgewickelt, der Rest lief über Sudscha, den anderen Einspeisepunkt.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.