Michael Harms

„Wir brauchen beide Länder als Partner für den Klimaschutz“

Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft e.V. hat im vergangenen Jahr einen Rekord im Außenhandel mit Osteuropa vermeldet. Eine Eskalation des Ukraine-Konflikts und damit verbundene Sanktionen würden auch die langfristigen Aussichten in der Region belasten, sagt Geschäftsführer Michael Harms.

„Wir brauchen beide Länder als Partner für den Klimaschutz“

Stefan Paravicini.

Herr Harms, der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft feiert das 70-jährige Bestehen. Wird es für die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen das schwierigste Jahr seit 1952?

Nein, das würde ich so nicht sehen. Im historischen Rückblick gab es in dieser Zeit sehr schwierige Jahre, wir wurden ja mitten im Kalten Krieg gegründet. Was die wirtschaftlichen Aussichten betrifft, sind die für 2022 gar nicht schlecht. Das ist ja das Paradoxe. Wir haben im vergangenen Jahr eine sehr gute Entwicklung der Handelsbeziehungen mit Russland und ganz Osteuropa gesehen. In der jüngsten Umfrage blicken die Unternehmen optimistisch auf das laufende Jahr. Aber natürlich belasten jetzt die politischen Konflikte sehr stark.

Der Außenhandel mit Osteuropa übertrifft den Handel mit den USA und China zusammen. Was steht für die deutsche Wirtschaft im Ukraine-Konflikt auf dem Spiel?

Sofern es zu einer militärischen Eskalation kommt, wovon wir nicht ausgehen, wird die Antwort des Westens sehr hart ausfallen und auch zu großen eigenen wirtschaftlichen Nachteilen führen. Wir können noch nicht genau sagen, was das für die deutsche Wirtschaft bedeuten würde, aber die Richtung ist klar. Harte Sanktionen wären eine sehr starke unmittelbare Belastung für die Handels- und Investitionsbeziehungen, würden aber auch unsere strategischen Aussichten beeinträchtigen.

Wäre Deutschland besonders von den Auswirkungen von Sanktionen gegen Russland betroffen?

Wir sind weltweit der zweitgrößte Außenhandelspartner Russlands und in Europa der mit Abstand größte. Deutsche Unternehmen haben rund 24 Mrd. Euro direkt in Russland investiert. Die Verflechtungen sind also sehr stark, und wir wären von einer Eskalation überproportional betroffen.

Kann man das mit Blick auf die Sanktionen nach der Krim-Annexion ungefähr beziffern?

Die unmittelbaren Sanktionen nach der Annexion der Krim waren relativ milde. Die harten Sanktionen erfolgten dann nach dem Abschuss der MH17, das hatte mit der Ostukraine zu tun. Und dies hatte bedeutsame Auswirkungen, wobei man damals den Rückgang des Handels, der bei ungefähr 40% oder umgerechnet rund 30 Mrd. Euro lag, nicht eins zu eins auf die Sanktionen zurückführen kann. Gleichzeitig gab es einen starken Fall des Ölpreises und eine starke Abwertung des Rubels. Das hatte vielleicht sogar größere Auswirkungen als die Sanktionen. Die wichtigsten Kollateralschäden von Sanktionen betreffen die längerfristigen strategischen Investitionsvorhaben. Wenn es jetzt zu einer Eskalation käme, wäre die Wirkung um ein Vielfaches größer als 2014.

Wie gut sind die deuschen Unternehmen auf die Auswirkungen von Sanktionen vorbereitet?

Darauf kann man sich eigentlich nicht vorbereiten. Man kann natürlich versuchen, die Risiken zu minimieren. Aber wenn harte Finanzsanktionen kommen, kann man dagegen wenig machen. Die muss man dann in Kauf nehmen.

Welche Branchen wären besonders betroffen?

Die deutsche Wirtschaft ist in ihrer gesamten Vielfalt stark in Russland engagiert. Das gilt für die Automobilindustrie, den Maschinenbau, die chemische Industrie und die Elektroindustrie sowohl im Außenhandel als auch bei großen Investitionsprojekten. Bei der Verarbeitung von Öl und Gas sind deutsche Firmen führend an riesigen Anlagen für die russische Industrie beteiligt. Da geht es um Milliardensummen. Finanzsanktionen oder auch Sanktionen für den Energiesektor hätten da verheerende Auswirkungen. Ich will aber noch einmal betonen, dass wir nicht davon ausgehen, dass es so kommt, und wir alles tun sollten, um diese Entwicklung zu vermeiden.

Handelt Bundeskanzler Olaf Scholz im Sinne der deutschen Wirtschaft, wenn er sich nur spärlich zu Nord Stream 2 äußert?

Ja, aus meiner Sicht ist das sehr klug, und wir halten die Vorwürfe an Olaf Scholz in diesem Zusammenhang für völlig unbegründet. Es geht ja nicht nur darum, sein Gegenüber über mögliche Sanktionen im Unklaren zu lassen. Das wirtschaftliche Argument dafür lautet, dass man den Konflikt nicht weiter anheizen sollte. Scholz hat sich sehr klar dazu geäußert, dass alle Optionen auf dem Tisch liegen. Gleichzeitig tut er alles, um eine Eskalation zu verhindern. Dazu dienten auch seine Reisen nach Washington, Kiew und Moskau. Das ist eine kluge und ausgewogene Politik, und er hat unsere volle Unterstützung.

Der Ost-Ausschuss macht sich für einen „Helsinki-2.0.-Prozess“ nach Vorbild der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Anfang der siebziger Jahre stark. Wie könnte der aussehen?

Der Gesprächsprozess zur KSZE-Schlussakte von Helsinki jährt sich bald zum 50. Mal. Mit der Konferenz haben die Großmächte 1975 aus der furchtbaren Konfrontation der 1960er Jahre – denken Sie an den Mauerbau, die Kuba-Krise, Vietnam oder den Prager Frühling – herausgefunden und ihre Zusammenarbeit und den Frieden gestärkt. Diesen Geist von Helsinki brauchen wir heute wieder. Wir wollen ja sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine gute Beziehungen haben. Es geht nicht darum, einen Partner zu bevorzugen oder sie gegeneinander auszuspielen. Deswegen muss das ein gesamteuropäischer und kontinuierlicher Gesprächsprozess sein. Konkret schlagen wir eine Konferenz für Sicherheit und Klimazusammenarbeit vor.

Was kann die deutsche Wirtschaft dazu beitragen?

Allein im Bereich Klimapolitik haben wir eine riesige gemeinsame Verantwortung. Hier könnten wir gesamteuropäische Projekte vorantreiben und damit nicht nur die wirtschaftlichen Beziehungen stärken. Russland hat enormes Potenzial für blauen Wasserstoff aus Erdgas, aber auch für grünen Wasserstoff. Sowohl Russland als auch die Ukraine haben als riesige Flächenländer Potenzial für Wind- und Sonnenkraft. Die Bundesaußenministerin hat Aufforstungsprojekte vorgeschlagen. Wir brauchen beide Länder als Partner für den Klimaschutz und die Energiewende, sonst kommen wir da nicht voran. Zudem ist Russland bei Spezialthemen wie der Verarbeitung von nuklearen Abfällen zur Reduktion der Endlagerzeit technologisch führend. Auch da kann man sich eine Zusammenarbeit vorstellen.

Das Interview führte

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