Streit um Rechtsstaatlichkeit

Das Gespenst des Polexit

Die Angst vor einem Austritt Polens aus der EU erscheint unbegründet: Ein solcher Schritt wäre politisch nicht mehrheitsfähig und ökonomisch unsinnig.

Das Gespenst des Polexit

Am Montag hat vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg ein weiteres Verfahren begonnen, in dem es um die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit in der EU geht und in dem sich die europäischen Institutionen ein weiteres Mal mit Polen auseinandersetzen müssen. Es geht dieses Mal um das neue Rechtsstaatsinstrument, das zum Schutz des EU-Haushalts eingeführt worden ist. Dieses besagt, dass Mittel zurückgehalten oder gekürzt werden können, wenn es grundlegende demokratische Probleme im jeweiligen Mitgliedstaat gibt – beispielsweise, wenn die Unabhängigkeit der Justiz nicht gewährleistet ist. Dagegen hatten – wen wundert es – Polen und Ungarn Klagen eingereicht. Sie wollen, dass diese neue Verordnung für nichtig erklärt wird.

Für Polen ist das Verfahren nur ein weiterer Schritt im jahrelangen Streit mit der EU-Kommission­ über eine Justizreform, der mit dem Spruch des polnischen Verfassungsgerichts in der vergangenen Woche seinen traurigen Höhepunkt erreicht hat. Denn seit die obersten Richter in Warschau das europäische Rechtssystem grundsätzlich in Frage gestellt haben, ist die Aufregung groß. Seither geht wieder ein Gespenst um in Europa: Es ist die Angst, dass sich nach Großbritannien ein weiteres großes Land auf einen Austritt aus der Europäischen Union vorbereitet. Bei genauerem Hinsehen erscheint diese Angst derzeit allerdings eher unbegründet: Denn ein solcher Polexit wäre nicht nur politisch und ökonomisch völlig unsinnig, er wäre in Polen bei einer Abstimmung auch nicht mehrheitsfähig.

Am Wochenende haben in mehr als 100 polnischen Städten proeuropäische Demonstrationen stattgefunden. Allein in Warschau waren wohl bis zu 100000 Menschen auf den Straßen. Den Gefechten der nationalkonservativen Regierungspartei PiS mit Brüssel zum Trotz sind die meisten Polen sehr EU-freundlich eingestellt, wie Umfragen seit Jahren immer wieder zeigen. Ob Fragen nach dem Vertrauen in die EU-Institutionen oder dem allgemeinen Image der EU – die Antworten fallen in Polen meist positiver aus als im europäischen Durchschnitt. In einer erst wenige Wochen alten Eurobarometer-Umfrage sagten 79% der Polen, sie sähen einer Zukunft der EU „optimistisch“ oder „sehr optimistisch“ entgegen. Nur in Irland lag der Wert mit 85% noch höher. In Deutschland äußerten sich nur 67% optimistisch. Die regelmäßigen Eurobarometer-Umfragen zeigen auch: Wenn heute über eine EU-Mitgliedschaft abgestimmt würde, müsste man in Griechenland zittern. Man müsste auch im Gründungsland Frankreich zittern. Und vielleicht auch noch in einigen anderen euroskeptischen Staaten – aber nicht in Polen.

Polen ist zugleich auch einer der größten Profiteure der europäischen Umverteilungsprozesse: Im vergangenen Jahr erhielt das Land 18,1 Mrd. Euro aus dem EU-Haushalt – mit Abstand mehr als jedes andere Land. Dies entsprach 3,6% des Bruttoinlandsprodukts. Auch abzüglich der Beitragszahlungen blieb Polen mit 12,4 Mrd. Euro größter Nettoempfänger. In den Jahren zuvor hatte das Plus mit 11,3 beziehungsweise 11,6 Mrd. Euro nur geringfügig niedriger gelegen. Die Entwicklung, die das Land seit seinem EU-Beitritt im Jahr 2004 genommen hat, wäre ohne die vielen Kohäsionsmilliarden aus Brüssel kaum denkbar gewesen. Auch vom EU-Wiederaufbaufonds profitiert Polen überdurchschnittlich: Die nicht rückzahlbaren Zuschüsse summieren sich auf 26 Mrd. Euro. Beantragt hat die Regierung zudem 12 Mrd. Euro an günstigen Krediten. Dass die EU-Kommission die Genehmigung für dieses riesige Konjunkturpaket nun zurückhält, tut weh.

Die Brüsseler Behörde hat lange Zeit eher vorsichtig in dem Konflikt agiert, war immer auch darauf bedacht, den Streit nicht zu sehr eskalieren zu lassen. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts, in dem wichtige Artikel der Europäischen Verträge, der grundsätzliche Vorrang des EU-Rechts sowie die Autorität des EuGH in Frage gestellt werden, kann dies nicht mehr der richtige Weg sein. Rechtssicherheit ist sowohl für die Bürger der EU als auch für die Wirtschaft ein zu hohes Gut, um Kompromisse machen zu können. Vieles wird jetzt davon abhängen, ob und wie schnell der EuGH in dem am Montag begonnenen Prozess die EU-Kommission unterstützt und den neuen Rechtsstaatsmechanismus bestätigt. Wenn alle Überzeugungskraft zu Ende ist, könnte nämlich das Geld der einzige Hebel sein, eine Regierung zu stoppen, die die europäischen Werte mit Füßen tritt. Das Gespenst des Polexit hilft hier wenig.                                (Börsen-Zeitung,

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