LeitartikelEuropäische Union

Europas schwieriges Jahr

Das politische Alltagsgeschäft in der EU dürfte 2024 deutlich schwieriger werden. Dafür sprechen Signale wie die parlamentarische Ablehnung der ESM-Reform in Italien und der zunehmende Zuspruch für die europakritischen Parteien wie zuletzt in den Niederlanden.

Europas schwieriges Jahr

Europas schwieriges Jahr

Von Detlef Fechtner

Die gute Nachricht lautet: In diesem Jahr befindet sich die Europäische Union nicht in einer akuten Krise. Anders als 2005, als Franzosen und Niederländer in Referenden gegen den Vertrag für eine Verfassung stimmten und die EU in ein großes Grübeln stürzten. Anders als 2010, als Griechenland am Abgrund taumelte und die EU in eine schwere Staatsschuldenkrise hineingeriet. Und auch anders als 2016, als die Mehrheit der Briten für einen Austritt aus der EU votierte und die Sorge umging, andere könnten folgen. Nein, 2024 ist – zumindest soweit es sich zum Jahresbeginn absehen lässt – mit keinem solchen besonderen Nackenschlag für die europäische Integration zu rechnen.

Die schlechte Nachricht lautet: Vieles spricht dafür, dass das politische Alltagsgeschäft in der EU trotzdem deutlich schwieriger wird und die Bereitschaft sinkt, sich auf Gemeinsames zu verständigen. Und während es bisher vor allem die europakritischen Kräfte in Polen und Ungarn waren, die Kompromisse erschwerten, sind es mittlerweile sogar Gründungsländer der Europäischen Gemeinschaften, die den Integrationsmotor bremsen. Besonders augenfällig war das jüngst in Italien zu beobachten. Das Parlament in Rom sprach sich mit großer Mehrheit gegen eine Reform des Euro-Rettungsschirms ESM aus. Damit ist der Rückgriff auf ESM-Mittel zur Unterstützung des EU-Bankenabwicklungsfonds für eine schonende Entsorgung maroder Kreditinstitute bis auf Weiteres blockiert – womöglich auch langfristig. Und das, obwohl gerade Italien davon profitieren würde, wenn die Marktteilnehmer mehr Vertrauen in die Krisenfestigkeit des europäischen Bankensystems hätten. Allem Anschein nach spielten ganz andere Motive die entscheidende Rolle für das Nein aus Rom.

Störungen im Tagesgeschäft

Nach den Parlamentswahlen in den Niederlanden droht nun neues Ungemach für das europäische Tagesgeschäft. Denn Geert Wilders und seine Partij voor de Vrijheid sind bei den Wahlen vor wenigen Wochen stärkste Partei geworden. Zwar ist es dem Nationalpopulisten, der sich vor einigen Jahren öffentlich für einen Austritt seines Landes aus der EU ausgesprochen hatte, bislang nicht gelungen, eine Koalition rund um die PVV zu schmieden. Die PVV verbuchte aber einen Etappensieg, indem sie es schaffte, ihren Kandidaten Martin Bosma zum Parlamentspräsidenten küren zu lassen. Das signalisiert, dass die erstarkte PVV auch ohne feste Koalitionspartner Einfluss ausüben kann und sie dazu beitragen wird, dass die Niederlande in Beratungen mit ihren EU-Partnern vom verlässlichen Partner zum unsicheren Kantonisten avancieren.

Und dann sind da ja auch noch die Europawahlen im Juni. Bei der „Sonntagsfrage“ haben zuletzt die großen Parteifamilien ähnlich abgeschnitten wie bei der Europawahl 2019: Die Christdemokraten sind nach wie vor die stärkste Fraktion, gefolgt von den Sozialdemokraten. Deutlich verschieben sich aber mittlerweile die Gewichte zwischen anderen politischen Gruppierungen. Die Fraktion der sogenannten konservativen Reformer, zu der etwa Polens frühere Regierungspartei PiS und die Brüder Italiens von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zählen, haben spürbar zugelegt. Und der Rechtsaußen-Block „Identität und Demokratie“, der etwa Frankreichs Rassemblement National, die PVV von Wilders oder die AfD vereint, ist gerade kurz davor, in den Umfragen zur drittgrößten politischen Kraft im EU-Parlament aufzusteigen. Im Gegenzug verlieren sowohl Liberale als auch Grüne an politischem Gewicht.

Einigungen werden komplizierter

Das bedeutet: Sowohl im Ministerrat als auch im EU-Parlament dürfte es komplizierter werden, europäische Gesetze auf den Weg zu bringen. Die EU lebt davon, dass Einzelne Zugeständnisse machen, um gemeinsame Lösungen zu finden – davon wiederum profitieren am Ende unterm Strich alle. Luxemburg zum Beispiel stimmt seit Ewigkeiten der Förderung maritimer Projekte zu, obwohl das Großherzogtum daraus keinen Gewinn ziehen kann, weil das größte zusammenhängende Gewässer der Remersche Weiher ist. Gleichzeitig profitiert kaum ein anderes Land so sehr von Europas Einigung. Viele Zeichen deuten darauf hin, dass die Stimmung in der Europäischen Union 2024 mehr niederländisch geprägt sein wird als luxemburgisch.

Sowohl im Ministerrat als auch im EU-Parlament dürfte es komplizierter werden, europäische Gesetze auf den Weg zu bringen.

Gesetzgebung

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