Ukraine-Krieg

Für die einen ist es Krieg, für die anderen ein Riesengeschäft

Nach über zehn Monaten Ukraine-Krieg zeigt sich immer klarer, dass nicht wenige in Russland von ihm und den Sanktionen gehörig profitieren. Wer sind die Nutznießer? In welchen Sektoren arbeiten sie? Und wie kommen sie zu ihren Vorteilen?

Für die einen ist es Krieg, für die anderen ein Riesengeschäft

An Wladimir Potanin beißt sich der Westen die Zähne aus. Wie umgehen mit dem zweitreichsten Russen, der – wie viele russische Unternehmer – unter dem bestehenden Regime nicht nur leidet, sondern von ihm auch profitiert – und nun im Unterschied zu vielen sogar noch aus den Folgen des Ukraine-Krieges und der Sanktionen seine Vorteile zieht? Sollte man den 61-jährigen Multimilliardär nicht längst mit Sanktionen belegt haben? Oder ist die Sache doch nicht so einfach, weil die Welt von einzelnen Erzeugnissen seines Konzerns abhängt? Kanada fackelte nicht lange und setzte ihn gleich im April auf die Sanktionsliste. Australien und Großbritannien zogen später nach. Die USA erst Mitte Dezember, nahmen aber seinen Konzern Nornickel, an dem Potanin 37% hält, von den Strafmaßnahmen aus. Und die EU rührte Potanin und sein Imperium vorerst gar nicht an.

„Solide und kaltblütig“

Am Dilemma Potanin stößt eine westliche Schwarz-Weiß-Logik an ihre Grenzen. Denn einerseits deckt sein Konzern Nornickel nach wie vor 38% des weltweiten Palladium-, 17% des Nickel- und 10% des Platinmarktes ab. Andererseits gilt Potanin als einer der größten Profiteure der Sanktionen überhaupt. Gleich in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn nämlich begann er Vermögenswerte billig aufzukaufen, die andere abstießen, weil sie das Weite suchten oder suchen mussten.

Er kaufte die Tinkoff-Bank, Russlands zweitgrößte Privatbank, weil sich deren Gründer Oleg Tinkow aufgrund seiner unverblümten Kritik am Krieg ins System-Out katapultiert hatte. Und er kaufte gleich auch noch die elftgrößte Bank Rosbank, die er einst schon einmal besessen und dann lukrativ an die Société Générale verkauft hatte. Flugs wurde er so zum großen Player in der Finanzindustrie – und das zum Spottpreis.

Als „Käufer des Jahres“ bezeichnete ihn daher das russische „Forbes“-Magazin. Es gehe darum, die wirtschaftliche Position Russlands zu bewahren, schrieb er auf seinem Telegram-Kanal: „Vor dem Hintergrund der vielfach irrationalen und sogar hysterischen Ereignisse an den globalen Märkten müssen wir uns solide und kaltblütig geben.“

Kaltblütig in Sachen Besitzumverteilung war in Russland aber keinesfalls nur Potanin. „Er ist zwar in aller Munde, weil er als Oligarch der 1990er Jahre so groß und bekannt ist. Aber es gab im Vorjahr weitaus interessantere Übernahmen – vor allem jener ausländischen Unternehmen, die Russland verlassen haben“, sagt Oleg Wjugin, Ökonom und zuvor Vizechef der russischen Zen­tralbank sowie Aufsichtsratschef der Moskauer Börse. „Viele Russen kauften gut gemanagte Unternehmen mit qualifiziertem Personal und in guter finanzieller Situation. Und zwar mindestens um die Hälfte billiger.“

Berühmt wurde der Fall McDonald’s, die im Juni ihre Restaurants mit 62000 Mitarbeitern an ihren langjährigen sibirischen Partner Alexander Gowor verkaufte. Dieser adaptierte das Erscheinungsbild und lässt das Geschäft nun unter dem Namen „Wkusno i Totschka“ („Lecker und Punkt“) weiterlaufen. Ob McDonald’s die ausverhandelte Rückkaufoption zu Marktbedingungen in den nächsten 15 Jahren zieht, lässt sich freilich noch nicht sagen. Für Gowor wird das Ganze allemal ein gutes Geschäft gewesen sein. So wie auch für die einheimischen Käufer des Russlandgeschäfts der britischen Imperial Brands (Hersteller von Zigaretten wie Gauloises oder Davidoff), die dafür 225 Mill. Pfund abschreiben musste. „Die lukrativsten Deals fanden im Produktionsbereich statt. Firmen mit modernster Technologie, die hunderte Millionen Euro wert sind, wurden für zehn Millionen gekauft“, sagt Wjugin.

Im Unterschied zu Moralstatistikern wie der Yale School of Management (SOM) oder der Londoner Moral Rating Agency, die mit ihren Listen westliche Firmen je nach Grad ihres Verbleibs in Russland öffentlich an den Pranger stellen, sind Beobachter wie der Ökonom Wjugin zurückhaltend und nennen die Namen der russischen Profiteure lieber nicht. Ausgehend von der SOM-Liste (siehe Grafik), der zufolge 171 westliche Firmen Russland partiell, 335 gänzlich und 495 partiell oder gänzlich, aber mit Rückkaufoption verlassen haben, lässt sich das Ausmaß erahnen, in dem russische Unternehmer zu lukrativen Vermögenswerten gekommen sind.

Logistik im Aufwind

Übernahmen einzelner Unternehmen sind das eine. Das andere ist, dass ganze Branchen in Russland infolge des Krieges und der Sanktionen einen Boom erfahren haben und neben den hohen Gas- und Ölpreisen sowie der smarten Geldpolitik der Zentralbank mit dafür verantwortlich sind, dass die Wirtschaftsleistung des Landes im Jahr 2022 wider Erwarten nicht zweistellig, sondern nur um 3,4% gefallen sein wird, wie der Internationale Währungsfonds (IWF) nun prognostiziert.

Eine der größten Bewegungen findet im Logistiksektor statt. Hier war bereits bei Kriegsbeginn alles durcheinandergekommen, nachdem der Flugverkehr mit Europa ruhte, Seehäfen russische Warencontainer abgewiesen und große internationale Zusteller ihre Lieferungen ge­stoppt hatten. Am Ende beschränkte die EU mit dem fünften Sanktionspaket noch den Warentransport auf dem Landweg.

Doch russische Unternehmer versuchten die neue Marktnische zu besetzen. Zu Hunderten schießen Logistikfirmen aus dem Boden, um neue Routen beim Im- und Export zu besetzen. Vielfach werden sie im Ausland mit Fokus auf den russischen Markt registriert. In Dubai herrscht diesbezüglich ein wahrer Boom aufgrund attraktiver Bedingungen und der guten Möglichkeiten, dorthin auch Geld zu schaffen. In der Türkei ebenso, in den Sowjet-Nachfolgestaaten wie Kasachstan ohnehin. Geografisch verlagern sich die Transportrouten aus dem Norden und Westen nach Süden und Osten – allein Russlands Warenaustausch mit der Türkei soll sich Prognosen zufolge 2022 auf über 60 Mrd. Dollar fast verdreifacht haben.

Um wie viel die Rüstungsindustrie zugelegt hat, lässt sich im Detail nicht sagen, da Russland hier Daten – vor allem seit der Teilmobilmachung im September – verschleiert. Was die offiziellen Rüstungsausgaben be­trifft, so wurden sie im September gegenüber dem Plan vom Frühjahr um ein Drittel höher bei 4,7 Bill. Rubel (76 Mrd. Euro) ausgewiesen. Dass die russische Rüstungsindustrie die gesamte Wirtschaft stützt, hatte die Nachrichtenagentur Bloomberg schon im September mit Verweis auf die amtliche Statistik hervorgehoben. „Die Zahlen der Industrieproduktion schienen in den vergangenen Monaten fast zu schön, um wahr zu sein“, wurde damals Tatjana Orlowa vom Beratungsunternehmen Oxford Economics zitiert.

Ganz so rosig sind die Zahlen in der Landwirtschaft zwar nicht, aber immerhin blieb der Sektor stabil, da sich die Nachfrage nach ihm nicht geändert hat und er im Unterschied zur Rohstoffbranche weniger von den Beschränkungen im Außenhandel betroffen ist.

Eine uneindeutige Entwicklung gab es indes auf dem Autosektor. Zwar ist der Handel mit Neuwagen aufgrund des Rückzugs westlicher Produzenten in den ersten neun Monaten des Jahres um 61% eingebrochen, wobei die Lagerbestände zum doppelten bis dreifachen Preis abverkauft wurden. Aber dafür blüht der ohnehin rentablere Gebrauchtwagenmarkt in ungeahntem Ausmaß. Und mit ihm der Handel mit Ersatzteilen sowie die Reparaturwerkstätten.

Selbst für den Öl- und Gassektor, Russlands wichtigste Exportbranchen, lässt sich für 2022 ein positives Resümee ziehen, da er trotz stark rückläufiger Exportvolumina aufgrund der hohen Preise sogar mehr verdient hat als im Jahr zuvor. Allein, die Aussichten sind hier alles andere als rosig. Die Internationale Energieagentur (IEA) prognostiziert, dass die Ölproduktion aufgrund der Sanktionen und des Preisdeckels Ende März 2023 um bis zu 20 % unter dem Niveau vor dem Beginn des Ukraine-Kriegs liegen werde.

Und der halbstaatliche Gaskonzern Gazprom hat auf seinem wichtigsten Exportmarkt Europa massiv Marktanteile verloren und liefert nun auf dem niedrigen Niveau von Algerien. Die Investitionsbank BCS Global Markets meint, dass der Gasexport in die Länder außerhalb der ehemaligen Sowjetunion, der von 185 Mrd. Kubikmetern (2021) auf 101 Mrd. Kubikmeter (2022) gefallen ist, bis 2025 auf 69 Mrd. Kubikmeter sinken wird.

Das heißt freilich nicht, dass es innerhalb des Sektors nicht auch Gewinner gibt. Schon 2022 zeigte sich, dass Russlands zweitgrößter und privater Gaskonzern Nowatek von der globalen Nachfrage massiv profitiert, weil er im Unterschied zu Gazproms Pipelinegas von Anfang an auf verflüssigtes Erdgas (LNG) ge­setzt hat und dieses geografisch flexibler auf den Markt bringen kann. Selbst in der EU ist die Einfuhr von russischem Flüssiggas um satte 40% gestiegen. Gezahlt habe die EU dafür in den ersten neun Monaten des Jahres den Rekordbetrag von 12,5 Mrd. Euro – fünfmal mehr als 2021, schreibt Bloomberg.

Langfristige Verlierer

Auch wer auf Finanzdienstleistungen im Umgang mit Russland angewiesen war, musste tief in die Tasche greifen. Das hat zwar nicht dem gesamten russischen Bankensektor geholfen, der aufgrund der vielfältigen Sanktionen im Jahr 2022 laut Zentralbank negativ bilanziert haben wird. Aber einzelne Banken erlebten eine Geldschwemme wie nie zuvor. Vor allem im Chaos der ersten Kriegsmonate und in den Wechselkursturbulenzen konnten gewisse Geldinstitute mit Kommissionen und Gebühren eine goldene Nase verdienen und davon profitieren, dass viele Banken bereits unter Sanktionen standen.

Die Raiffeisenbank International (RBI) hat überhaupt einen Sonderstatus erlangt und den Nettogewinn in den ersten drei Quartalen gegenüber 2021 um über 150% auf 2,8 Mrd. Euro gesteigert, weil das Russland-Geschäft von 344 Mill. Euro auf 1,4 Mrd. Euro hochgeschnellt ist. Einziger Wermutstropfen: Die Dividenden können aufgrund der Sanktionen nicht an die ausländische Konzernmutter überwiesen werden.

Solche Wermutstropfen seien freilich nur die Vorboten dafür, dass langfristig auch alle Kriegs- und Sanktionsprofiteure verlieren werden, weil Russland für den Krieg lange werde zahlen müssen, sagt Sergej Gurijew, russischer Ökonom an der Pariser Hochschule Sciences Po: „Und: Wer 2022 profitiert hat, wird nach einem Regimewechsel große Probleme bekommen.“

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