Schanghai

Konsumenten auf Rachezug

Schanghai ist der Inbegriff moderner chinesischer Konsumkultur. Mit dem Lockdown aber haben sich ein paar alte Sitten wieder eingeschlichen, die Konsumforschern die Haare zu Berge stehen lassen. 

Konsumenten auf Rachezug

Seit 1. Juni dürfen die 66 Tage lang hermetisch abgeriegelten Stadtseiten Pudong und Puxi wieder ein Schanghai genanntes Ensemble bilden, das man getrost als ein Herzstück der chinesischen Wirtschaft bezeichnen darf. Der Infarkt hat den Rest des Landes schwer ins Schnaufen gebracht. Entsprechend schielen Ökonomen neugierig darauf, was passiert, wenn Schanghai wieder pulsiert. Boom-Stimmung herrscht bislang aber nur in einem Sektor, nämlich dem Corona-Testwesen in ein paar Tausend neu aufgestellten Straßenkiosks. Dafür braucht es pro Woche mehr als hundert Millionen Wattestäbchen und Plastikröhrchen. Dem Nonstop-Betrieb an den Covid-Buden steht allerdings ein unübersichtliches Stop-and-go bei herkömmlichen Dienstleistungen gegenüber.

Jeder Ansteckungsfall lässt die aufgeschreckten Lokalbehörden mit neuen Verordnungen zurückrudern. Ständig wechseln die Bedingungen, zu denen ein Ladenbesitzer sich betätigen kann, ein Arbeitnehmer seinem Bürojob nachgehen darf und ein Hündchen zum Spaziergang mit „Geschäftsverrichtung“ im Freien kommt. Während die Stadtverwaltung bei den Hunden weiter dafür plädiert, dass sie möglichst alles drinnen erledigen, gibt es eine Menge von Geschäften, die nun im Freien verrichtet werden sollen, um Ansteckungsgefahren gering zu halten.

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Zahlreiche Läden dürfen niemanden hineinbitten und müssen sich kreative Straßenverkaufslösungen einfallen lassen. So findet man beispielsweise Ecken, an denen ein Pulk von Masseuren sein Mobiliar nach draußen gebracht hat, um sein Werk zu verrichten. Gut, dass traditionelle chinesische Massage nichts mit Streicheleinheiten, meditativer Musik und Verwöhnaromen zu tun hat, sondern mit schmerzhaften Anwendungen, die man vollbekleidet und bei vollem Bewusstsein im Sitzen zu ertragen hat. Drinnen oder draußen spielt da keine entscheidende Rolle. Gleiches gilt für anspruchslose Haarschnitte, das Schlürfen einer Nudelsuppe, die Moped-Reparatur und vieles andere. Gerade ältere Herrschaften wissen ein munteres Straßentreiben und heitere Outdoor-Atmosphäre wie in früheren Zeiten sehr wohl zu schätzen. Allerdings lässt sich damit keine moderne Dienstleistungswirtschaft wieder anschieben.

In der Lockdown-Zeit haben die Staatsmedien Schanghais tapfere Indoor-Community dafür gefeiert, wie sie aus der Situation das Beste macht, indem sie die Freuden eines einfachen, anspruchslosen Lebens erkundet: Es wurden neue Hobbys entdeckt, nützliche Dinge gebastelt, mit Gemüsezucht auf der Fensterbank experimentiert und kulinarische Fähigkeiten in Sachen kreativer Resteverwertungsküche entwickelt. Nun aber werden dieselben Medien etwas ungeduldig und ­fordern unterschwellig dazu auf, sich doch bitte wieder auf hirnlo­sen Massenkonsum und Geldver(sch)wendung für allen erdenklichen Schnickschnack einschließlich überteuerter Luxusgüter zu konzentrieren. Man soll dankbar sein, dass der Staat seine Bürger mit Corona-Nulltoleranz so vorbildlich geschützt hat. Um sich erkenntlich zu zeigen, muss man nun aber auch seinen Bürgerpflichten als Verbraucher nachkommen.

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Konsumforscher bezeichnen in Pandemiezeiten aufgestaute Konsumgelüste, die sich nach dem Ablauf von Restriktionen spontan entladen, als „revenge spending“. Es geht also um Rache für entgangene Freuden. In Europa und den USA scheint das gut zu klappen. In Schanghai ist man noch nicht so weit. Man weiß wohl Rache an der staatlich heraufbeschworenen Mangelsituation zu nehmen, aber nicht durch frivolen Mehrverbrauch und Nachsitzen im Juwelierladen, sondern durch beharrlichen Konsumverzicht in Erwartung der nächsten Restriktionswelle: Ihr habt uns klargemacht, dass wir nur drinnen gut aufgehoben und sicher sind. Nun bleiben wir da, fahren nicht in den Urlaub, essen nichts Teures, geben uns mit der alten Handtasche zufrieden, kaufen kein Auto und nehmen lieber die U-Bahn nach Pudong, so sie denn fährt. Wenn nicht, ist es auch gut, im Kühlschrank müssten noch ein paar Tofu-Reste sein.