China

Mehr als nur ein blaues Auge

Chinas Wirtschaft ist ein zweites Mal zu Boden gegangen. Diesmal wird es schwerer, sich wieder aufzurappeln, weil das Vertrauen angeknackst ist.

Mehr als nur ein blaues Auge

Auch ein kräftiger Niederschlag muss kein großes Malheur sein, wenn man über eine robuste Konstitution und unerschütterliche Siegermoral verfügt. Aufstehen, Staub abklopfen und weiter geht’s. Als China im Winter 2020 wegen der Corona-Pandemie den überhaupt ersten Absturz nach 30 Jahren Dauer-Wirtschaftswunder erlebte, war kein Defätismus zu spüren. Vielmehr wurde ein rascher Wiederaufschwung als Selbstverständlichkeit an­gesehen und konnte wegen der tatsächlich vollständigen Ausmerzung des Coronavirus reibungslos an­gepackt werden.

Dem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im ersten Quartal um fast 7% stand in der Folgeperiode bereits wieder ein Wachstum von 3,2% gegenüber, und dann ging es angetrieben von einer starken Industrieproduktion und flotten Exportwirtschaft immer weiter entlang einer V-förmigen Erholungskurve. Letztlich verbuchte China immer noch 2,3% Wachstum und entging als einzige größere Wirtschaftsnation einer Rezession. Der „Sieg über Corona“ und die Performance des Jahres 2020 sind zum Heldenstoff avanciert, aus dem sich Chinas Staatsführung eifrig bedient, um die Überlegenheit des eigenen politischen und wirtschaftlichen Lenkungssystems gegenüber dem der westlichen Industrieländer zu untermauern. Die laufende Fortschreibung des Heldenepos gestaltet sich allerdings schwierig.

In diesem Jahr ist Chinas Wirtschaft erneut zu Boden gezwungen worden. Die Nulltoleranzpolitik gegenüber Corona mit dem harten Lockdown in Schanghai und zahlreichen Re­striktionen in anderen Teilen des Landes hat die Konjunktur im zweiten Quartal regelrecht abgewürgt. Mit einer verzweifelten Belebungsoffensive bei öffentlichen Infrastrukturinvestitionen wurde zwar ein Absturz verhindert, aber mit einem BIP-Wachstum von gerade noch 0,4% verzeichnet man die zweitschlechteste Performance seit Beginn der Ermittlung von BIP-Quartalsdaten vor 30 Jahren.

Diesmal kam der Rückschlag nicht aus heiterem Himmel. Vielmehr hat sich die Parteiführung im Lichte der Erfahrungen und Erfolge vor zwei Jahren dazu berufen gefühlt, ultraharte Corona-Restriktionen in Reaktion auf jedweden Ansteckungs-Cluster zur landesweiten Norm zu machen und die unweigerlich damit verbundenen Wirtschaftsschäden erst einmal wegzulächeln. Dem Entsetzen von Ökonomen und Marktteilnehmern über den verheerenden zweimonatigen Lockdown in der Wirtschafts- und Handelskapitale Schanghai wurde und wird entgegengehalten, dass es sich um eine leicht verkraftbare Delle handelt. Ein umso kräftigerer Aufschwung in der zweiten Jahreshälfte sollte dann alles wieder ins Lot bringen.

Ein erneuter Sieg über Corona im Kontrast zur westlichen Kapitulation vor der Omikron-Welle wird die heimische Wirtschaft letztlich nur stärker und gegenüber dem Rest der Welt noch überlegener machen – so in etwa lautet die Botschaft. Man bekommt sie mittlerweile so ziemlich jeden Tag in den chinesischen Staatsmedien zu lesen. Seit Aufhebung des Lockdown in Schanghai kann jede noch so belanglose Statistik als Beweis für einen unwiderstehlichen Post-Lockdown-Aufschwung herhalten. Da wird eine rege Teilnahme an einem Online-Shopping-Livestream schnell zum Startschuss für einen landesweiten Konsumrausch oder ein anziehender Elektrizitätsverbrauch zum Beleg für pulsierende Industriedynamik, obwohl er nur auf die mörderische Hitzewelle zurückgeht, die das Milliardenvolk zum Dauerbetrieb der häuslichen Klimaanlage zwingt.

Vom ernüchternden BIP-Ergebnis im zweiten Quartal bekam man dieser Tage praktisch nichts zu lesen, wohl aber die Botschaft vom neuen Aufschwung und von der greifbaren Aufbruchsstimmung gerade in der jüngeren Bevölkerung. Das ist fast schon makaber, wenn man bedenkt, dass parallel zum BIP eine rekordhohe Arbeitslosenquote für die junge Bevölkerung von mehr als 19% bekannt gegeben wurde. Greifbar ist vielmehr eine ungewohnt dumpfe und pessimistische Stimmung in der Bevölkerung. Sie lässt die Verbraucher Konsumausgaben drosseln und ihre Ersparnisse zusammenhalten, hält Kleinunternehmen von Investitionen ab und bewegt sogar Techunternehmen zu Stellenstreichungen. Die Corona-Strategie der Parteiführung hat der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft mehr als nur ein blaues Auge verpasst. Diesmal wirkt sie angezählt. Die Priorisierung der Pandemiekontrolle ist längst nicht mehr Quelle für Wirtschaftsoptimismus, sondern Ursprung einer wachstumslähmenden Vertrauenskrise. (Börsen-Zeitung,

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