Lohnuntergrenze

Mindestlohn löst nicht alle Probleme

Ab 1. Oktober gilt die Lohnuntergrenze von 12 Euro pro Stunde. Die Unternehmen ächzen, Millionen Beschäftigte dürfte es hingegen freuen. Doch der höhere Mindestlohn hat nicht nur Vorteile.

Mindestlohn löst nicht alle Probleme

Für viele Beschäftigte ist es eine gute Nachricht: Zum 1. Oktober steigt der Mindestlohn von aktuell 10,45 auf 12 Euro pro Stunde. Zeitgleich steigt die Minijob-Grenze auf 520 Euro. Ökonomen bewerten die Anhebung des Mindestlohns weitgehend positiv. Eine Lohn-Preis-Spirale, wie sie zuletzt vor allem von Arbeitgeberseite und dem Bundesfinanzministerium ins Spiel gebracht wurde, droht ihnen zufolge eher nicht. Allerdings löst die Anhebung des Mindestlohns nicht die Probleme, die am Arbeitsmarkt derzeit bestehen. Im Gegenteil, zumindest eines könnte sie gar verschärfen: Deutschland fehlen Arbeitskräfte, und der Fachkräftemangel wird für immer mehr Unternehmen zu einer der drängendsten Herausforderungen.

„Sprung ihres Lebens“

Es war eines der großen Wahlkampfversprechen, mit denen die SPD 2021 in den Bundestagswahlkampf zog – und gewann. Der Mindestlohn sollte auf 12 Euro angehoben werden. Im Vergleich mit anderen EU-Staaten steht Deutschland damit dann an Platz 2, nach Luxemburg (siehe Grafik). Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) spricht von sechs Millionen Beschäftigten in Deutschland, die davon profitieren. Für viele sei es „der größte Lohnsprung ihres Lebens“, sagte der Minister Anfang Juni, nachdem das Parlament seinen Gesetzvorschlag verabschiedet hatte. „Sicherheit und Frieden, das sind die zentralen Prioritäten der Bundesregierung in diesen schwierigen Zeiten“, sagte Heil.

Dabei gehe es um Sicherheit nach außen, aber diese Sicherheit „muss auch nach innen gelten“. Er verwies dabei auf „die sozialen Herausforderungen, vor denen unser Land steht“, und auf die Sorgen vieler Menschen wegen der hohen Preissteigerungen. Der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, Marcel Fratzscher, sagte im Interview der Börsen-Zeitung jüngst, aufgrund des ungewöhnlich großen Niedriglohnsektors in Deutschland rechne er sogar mit zehn Millionen Menschen, die indirekt und direkt steigende Löhne haben werden.

Die Arbeitgebervereinigung BGA und andere Wirtschaftsverbände wie der Einzelhandelsverband (HDE) warfen dem Bundesarbeitsminister vor, die Mindestlohn-Kommission und die in der Verfassung verankerte Tarifautonomie zu untergraben. Eigentlich wäre die Kommission, in der Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Wissenschaft gemeinsam beraten, erst 2023 wieder mit einer Empfehlung zur Lohnuntergrenze an der Reihe gewesen. Die Tarifautonomie beschreibt das Recht der Sozialpartner, Tarifverträge ohne Einmischung des Bundes auszuhandeln.

Den Arbeitgebern geht es aber nicht zuletzt darum, sich die Kosten fürs Personal nicht vom Staat diktieren zu lassen – nicht zuletzt leiden nicht nur die Verbraucher, sondern gerade auch die Unternehmen besonders im Mittelstand unter den durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine noch einmal beschleunigten Preisanstiegen.

Firmen wollen Preise erhöhen

Eine aktuelle Umfrage des Münchner Ifo-Instituts ergab, dass die meisten Unternehmen zwar keine Be­schäftigungseffekte erwarten (siehe Grafik). Allerdings ist der Anteil der Unternehmen, die mit einem Abbau der Beschäftigung reagieren wollen, mit 12% höher als der Anteil der Betriebe, die ihr Personal weiter aufstocken wollen. Das deutet den Ifo-Forschern zufolge darauf hin, dass die Beschäftigungsanpassung anders ausfallen könnte als vor der Einführung des Mindestlohns 2015. Im Sommer veröffentlichten Daten der Mindestlohn-Kommission zufolge gingen bis 2020 etwa 76000 Beschäftigungsverhältnisse in Zu­sammenhang mit der Lohnuntergrenze verloren. Damals wurden laut Ifo-Studie viele Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen überführt. Aufgrund der parallelen Erhöhung der Minijob-Grenze könnte dieser Effekt jedoch dieses Mal ausbleiben. Zudem nimmt der Anteil der Unternehmen, die als Reaktion auf den höheren Mindestlohn Beschäftigung abbauen wollen, mit dem Grad der Betroffenheit stark zu. Das heißt, je mehr Mitarbeiter ein Unternehmen beschäftigt, die derzeit unterhalb von 12 Euro die Stunde verdienen, desto eher plant es, Jobs zu streichen. Das dürfte auf besonders viele Unternehmen in der Gastronomie und im Einzelhandel zutreffen. Insgesamt sind aber Betriebe in allen Branchen von der Erhöhung betroffen – und reagieren auch auf der Preisschiene.

Der Ifo-Umfrage zufolge wollen außerdem mehr betroffene Unternehmen den Umfang von Investitionen sowie Fortbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen eher zurückschrauben (21% bzw. 11%) als ausbauen (jeweils 5%). Zudem gaben 58,3% der 6900 befragten Unternehmen an, ihre Preise nach der Mindestlohn-Erhöhung anzuheben.

Droht eine Lohn-Preis-Spirale?

Ist das Grund zur Sorge vor einer Lohn-Preis-Spirale, in der die hohe Inflation hohe Lohnforderungen nach sich zieht und höhere Löhne – wie nun auch durch den Mindestlohn von 12 Euro pro Stunde – sich dann wieder auf die Teuerung auswirken? Wohl kaum, sagt etwa DIW-Ökonom Fratzscher. Trotz der Anhebung des Mindestlohns und der teils üppigen Lohnforderungen der Gewerkschaften, etwa der IG Metall, steigen die Löhne in diesem Jahr wohl nur um knapp 5%, rechnet er vor. Damit liegen die Löhne deutlich unterhalb der Inflationsrate von 8%. Stattdessen stärke die Mindestlohn-Erhöhung besonders die Haushalte, die unter der Inflation derzeit am stärksten leiden, weil sie von ihrem Einkommen relativ gesehen mehr Geld für Energie und Lebensmittel ausgeben müssen. „Es ist auch aus der wirtschaftlichen Perspektive gut, weil höhere Löhne die Kaufkraft stärken und damit die Nachfrage anschieben“, so Fratzscher.

Ein weiterer Kritikpunkt am Re­gierungsvorhaben basiert auf dem vorherrschenden Fachkräftemangel, wie er insbesondere in der Sicherheitsbranche oft zitiert wird. Ein gleicher Mindestlohn für Sicherheitsmitarbeiter, unabhängig von deren beruflichen Qualifikationen, macht Ausbildungen weniger attraktiv. Während einer Ausbildung werden oftmals sehr geringe Löhne gezahlt. Dies könnte dazu führen, dass Sicherheitskräfte sich etwa gegen eine dreijährige Ausbildung zur Fachkraft für Schutz und Sicherheit (FKSS) entscheiden und stattdessen direkt in den Arbeitsmarkt einsteigen. Umgekehrt erschwert ein Mindestlohn Schwarzarbeit. Das liegt auf der einen Seite an der höheren Attraktivität für Arbeitnehmer, einer regulär bezahlten, angemeldeten Tätigkeit nachzugehen. Außerdem stärkt das Mindestlohngesetz die Kontrollen von Arbeitszeit und Entgelt.

Die Mindestlohn-Erhöhung dürfte die größte sozialpolitische Maßnahme in dieser Legislaturperiode sein – und auch mit Blick auf die vergangenen und kommenden Jahre ihresgleichen suchen. Die SPD löst damit ihr Wahlversprechen ein. Millionen Beschäftigte werden davon profitieren. Zwar werden einige Betriebe ihre Preise aufgrund der gestiegenen Lohnkosten wohl erhöhen, doch insgesamt rechnen Ökonomen mit einem Positiveffekt, der nicht zuletzt durch die gesteigerte Kaufkraft getragen wird – und womöglich die Rezession etwas abmildert.

Von Anna Steiner, Frankfurt

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