Mobilitätswende

Stadt, Land, Frust

Der Erfolg der Mobilitätswende entscheidet sich auf dem Land. Daran, die Abhängigkeit der Menschen vom Auto zu reduzieren. Sonst ändert sich nur der Antrieb, aber nicht die Zahl der Autos.

Stadt, Land, Frust

Vielen Münchnern muss es vorkommen wie eine blanke Provokation: Ausgerechnet in Deutschlands Stau-Hauptstadt macht sich die Autoindustrie auf den schönsten Innenstadtplätzen breit. Wenn Anfang September die Internationale Automobilausstellung (IAA) eröffnet, feiert sie ihre Branchenschau erstmals an verschiedenen Standorten mitten im Herzen der bayerischen Metropole. „Die Bürger stärker einbeziehen“, lautet die Idee. Und der Verband der Automobilindustrie (VDA) bemüht sich nach Kräften zu vermitteln, dass es um mehr geht, als einfach neue Autos dorthin zu bringen, wo sie sich tagtäglich selbst im Weg stehen. „Von der Autoshow zur Mobilitätsplattform“, so das Credo der Veranstalter. Es gehe um neue Mobilitätskonzepte, die IAA als Denkfabrik – ein Spiegelbild der Transformation, der die gesamte Autobranche unterliegt.

Doch in dieser technologieverliebten Metropolenperspektive geht schnell unter: Spätestens am Rand der deutschen Großstadt-Speckgürtel gibt es für die meisten Menschen bislang einfach keine Alternative zum Auto. Fast 20 Millionen Menschen sind 2020 zur Arbeit gependelt, mehr als zwei Drittel von ihnen nutzten dafür das Auto. Das Angebot im öffentlichen Nahverkehr ist in den vergangenen Jahrzehnten vielerorts geschrumpft. Von Fernverkehrsanbindungen abseits der Metropolen ganz zu schweigen. Und dort, wo das Umland besser ans Bahn- oder Busnetz angebunden ist, sind Monatstickets nicht selten prohibitiv teuer. E-Scooter oder Flugtaxis werden daran nichts ändern. Pop-up-Radwege an Hauptverkehrsstraßen auch nur dann, wenn Pendler überhaupt erstmal mit dem Rad bis zu diesen Refugien gelangt sind.

Also volle Kraft voraus für die Elektromobilität? Die Radikalität, mit der Volkswagen, Mercedes-Benz und alle großen Autokonzerne den Wandel vom Verbrenner zum Elektroantrieb vorantreiben, ist unternehmerisch mutig und sicher nicht freiwillig: Letztlich ist sie eine Reaktion auf den politischen Druck, immer strengere Emissionsgrenzwerte einhalten zu müssen. Das muss nicht falsch sein. Im besten Fall ist die Elektrostrategie der deutschen Autobauer so erfolgreich, dass die Branche ihren wirtschaftlichen Stellenwert als Deutschlands Schlüsselindustrie erhalten kann – und mit ihm viele Hunderttausend Arbeitsplätze.

Immerhin gelingt es den Herstellern zunehmend, ihre E-Auto-Modellportfolios so vielfältig zu gestalten, dass selbst eingefleischte Auto-Enthusiasten nicht befürchten müssen, künftig nur noch langweilige Sparmobile fahren zu können. In einer Nation, in der das Automobil einen geradezu identitätsstiftenden Stellenwert genießt, ist das nicht zu unterschätzen. Der Wandel zur Elektromobilität kann also eine industrielle Erfolgsgeschichte werden. Zumindest dann, wenn die große Wette aufgeht, dass die Ladeinfrastruktur in ähnlichem Tempo wächst wie die Neuzulassungen von E-Autos. Bislang freilich tut sie das nicht. Und auch hier ist das Muster klar zu erkennen: Abseits der Großstädte wird es schnell dünn.

Die Sache hat nur einen riesigen Haken. Selbst wenn es den Autoherstellern gelingt, ihre Flotten bis 2025 oder 2030 komplett auf Elektroantriebe umzustellen – und damit bei den Kunden zu punkten: Das grundlegende Problem lässt sich nicht dadurch lösen, dass künftig statt der allmorgendlichen Dieselflotte eine lange Schlange von Elektroautos die Einfallstraßen verstopft.

Der Erfolg der Mobilitätswende entscheidet sich auf dem Land. In jenen Gemeinden, die an warmen Sommerwochenenden ihrerseits den Verkehrsinfarkt erleben, wenn die automobile Stadtbevölkerung die Ausflugsgebiete stürmt. Er entscheidet sich daran, ob es gelingt, dort die Abhängigkeit der Menschen vom Auto zu reduzieren. Und die Erfahrungen, die viele Menschen während der Corona-Pandemie gemacht haben, werden diese Frage noch verschärfen. Denn tatsächlich zieht es auch Großstadtbewohner zunehmend aufs Land: Teure Mieten und Immobilienpreise treiben sie aus den Ballungszentren hinaus. Und die Erwartung, dass auch nach Ende der Pandemie die Anwesenheit im Büro seltener erforderlich sein wird als früher, lässt den Umzug ins Grüne noch attraktiver erscheinen. Ohne einen Ausbau der ländlichen Verkehrsinfrastruktur, der komfortable und kostengünstige Alternativen zum eigenen Auto beinhaltet, wird sich nur der Antrieb ändern, aber nicht die Zahl der Autos.

Am stärksten spüren wird das der IAA-Austragungsort selbst: Keine andere deutsche Stadt empfängt morgens mehr Pendler als München.

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