Wagniskapital

Start-up in die neue Realität

Auch beim Venture Capital gehen die guten Zeiten zu Ende. Doch die Akteure am Markt für Wagniskapital brauchen noch Zeit, das einzugestehen.

Start-up in die neue Realität

Noch vor einem Jahr haben die offenen Geldschleusen der Notenbanken und die billionenschweren staatlichen Konjunkturprogramme den Wert jeglicher Vermögensgegenstände ohne Unterschied nach oben getrieben. Es war die „Alles-Rally“. Auch am Markt für Minderheitsbeteiligungen an jungen Unternehmen machte sich der stete Geldstrom bemerkbar. Die Finanzierungsrunden der Venture-Capital-Investoren für Start-ups erreichten Rekordwerte. Große Hedgefonds wie Tiger Global stiegen in den Sektor ein, machten buchstäblich jeden Tag eine Finanzierungsrunde mit und ließen bei diesem Tempo auch die Due Diligence beinahe ganz weg.

Inzwischen jedoch hat zumindest am Aktienmarkt seit November 2021 eine heftige Korrektur der Technologiewerte stattgefunden. Bei steigenden Zinsen müssen deren für die Zukunft erhoffte Gewinne stärker diskontiert werden. Insofern muss sich auch die Wagniskapitalblase langsam auflösen – so sollte man meinen.

Das tut sie aber bisher nicht. Zumindest nicht in Deutschland. Im Gegenteil: Während die globalen Venture-Capital-Investitionen nach den von der Unternehmensberatung KPMG zusammengestellten Zahlen von April bis Juni 2022 um knapp 27 % von 165,3 Mrd. auf 120,2 Mrd. Dollar einbrachen, stieg die hierzulande investierte Summe im selben Zeitraum um 35 % an: von 3,4 Mrd. auf 4,6 Mrd. Dollar. Am meisten Geld floss dabei in den Online-Broker Trade Republic (1,15 Mrd.), die Personalabteilungssoftware Personio, die Fußballfan-App Onefootball, die Steuersoftware Taxfix und die Cleantech-Firma 1Komma5. Im Zuge des Kriegs zwischen Russland und der Ukraine und der wachsenden Besorgnis über die Energieabhängigkeit ist das Interesse der Anleger an alternativen Energiegewinnungsmethoden, Energie­speicherung, Cleantech und Mobilität im zweiten Quartal deutlich gestiegen. Unter anderem gewannen wasserstoffbasierte Technologien an Aufmerksamkeit. Weitere Trendthemen sind nach Ansicht von KPMG Fintech, Lieferkette und Logistik sowie Cybersicherheit. Erst an diesem Freitag hat sich der deutsch-finnische Quantencomputer-Anbieter IQM bei diversen Investoren zusätzliches Kapital besorgt – insgesamt 128 Mill. Euro.

Einfach so weitergehen kann das nicht. Nach einem historischen Boom, der in mancherlei Hinsicht selbst die Technologieblase der 1990er Jahre in den Schatten stellt, hat bei Venture-Capital-Investments eine Anpassung an rationalere Bedingungen begonnen. Die Bewertungen einer Reihe von hochfliegenden Start-ups – darunter der schwedische Zahlungsdienstleister Klarna – sind im zweiten Quartal weltweit deutlich gesunken. Viele Venture-Capital-Investoren und Start-ups achten verstärkt darauf, ihre Liquidität zu sichern, ihre Belegschaft abzubauen – wie etwa beim Lieferdienst Gorillas – und neue Finanzierungsrunden aufzuschieben, bis sich die Lage bessert. Angesichts wachsender Inflation, steigender Zinssätze und anderer makroökonomischer Faktoren dürfte laut KPMG vor allem das Interesse von Venture-Capital-Investoren an E-Commerce-Unternehmen zurückgehen. Das könnte die Konsolidierung vorantreiben.

Die Anpassung an die neue Realität wird Zeit brauchen. Es gibt keinen unmittelbar wirkenden Anreiz für direkt involvierte Akteure einzugestehen, dass die guten Zeiten vorbei sind. Der Gründer eines gut laufenden Start-ups, das seine Ziele bislang erreicht, wird alles tun, um eine Rückwärtsrunde – also eine Finanzierungsrunde mit einer geringeren Bewertung als beim letzten Mal – zu vermeiden. Selbst wenn dies bedeutet, dass dem Unternehmen das Geld für Wachstum fehlt. Auch die Wagniskapitalfonds und ihre institutionellen Investoren stecken lieber den Kopf in den Sand. Bei den Finanzierungsrunden der vergangenen Jahre ging es immer nur aufwärts. Sie werden alles tun, um ihren eigenen Kontrollgremien keine schlechten Nachrichten überbringen zu müssen. Lieber noch eine kleine Finanzierungsrunde mit einer übertriebenen Bewertung oder gar keine Finanzierungsrunde als eine, die die neue Realität mit steigenden Zinsen, trabender Inflation und abgeschwächtem Wirtschaftswachstum durch eine Bewertungskorrektur anerkennt. Der dritte Grund für das Ausbleiben einer kräftigeren Bewertungskorrektur bei Start-ups ist der noch immer nachwirkende Überfluss an Kapitalzusagen in den Kassen der Venture-Capital-Gesellschaften. Dort liegen 290 Mrd. Dollar für Investments bereit. Wenn sie ausgegeben sind, beginnt die Korrektur. Klarna war erst der Anfang.

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