Ingo Mainert

Wehe, wehe, wehe – wenn ich auf die Geldmenge sehe!

Der Blick auf die Geldmenge lässt Rückschlüsse auf die Entwicklung der Inflation zu. Es kommt allerdings darauf an, welche Geldmenge man in den Fokus nimmt.

Wehe, wehe, wehe – wenn ich auf die Geldmenge sehe!

Master-Studenten der Wirtschaftswissenschaften ist es geläufig: Goodharts Gesetz. Benannt nach dem britischen Ökonomen und Notenbanker Charles Goodhart besagt es, dass Finanzmarktvariablen immer dann an Aussagekraft verlieren, wenn die Politik versucht, sie zu steuern. Sobald Letzteres geschieht, brechen zuvor beobachtete statistische Korrelationsmuster früher oder später zusammen. Die Erklärung: Marktteilnehmer stellen sich darauf ein, dass eine Größe ins Zielfeld der politischen Entscheidungsträger geraten ist, und ändern ihr Verhalten – quasi ein Pawlow’scher Konditionierungsreflex.

Mit Blick auf das Geldmengenaggregat M3 drängt sich mehr und mehr das Gefühl auf, dass definitorisch auch der Umkehrschluss gelten muss. Zu Bundesbankzeiten, aber auch in den frühen Jahren der EZB, war diese Geldmenge Zwischenziel und Schlüsselvariable zur Inflationsbekämpfung. Heute scheint das bei den Währungshütern hingegen vergessen. Möglicherweise aber ge­winnt das Geldmengenwachstum genau dadurch wieder an Aussage- und Prognosekraft.

Zunächst ein kurzer Abstecher in die Theorie, warum die Geldmenge für Inflation von Relevanz ist. Dies resultiert letztlich aus der seit mehr als 100 Jahren bekannten Quantitäts­gleichung des Geldes: M×V=P×T. Die Identität besagt, dass die Geldmenge M unter Berücksichtigung der Umlaufgeschwindigkeit V dem nominalen Wert sämtlicher Transaktionen in einer Volkswirtschaft entspricht (P×T). Steigt sie viel stärker, hat dies letztlich Inflation zur Folge. In diesem Prozess gibt es jedoch Wirkungsverzögerungen. Diese sind übrigens ein starkes Argument für Zwischenziele, um die inneren und äußeren Lags in der Kausalkette Zins – Geldmenge – Inflation überhaupt steuern zu können.

M1 wächst in Euroland zügig

In der Eurozone fällt nun Folgendes auf: Das eng definierte und näher am Zentralbankgeld angesiedelte Aggregat M1, bestehend aus Bargeld und Sichtguthaben, ist in der letzten Dekade durchweg stark gewachsen. Diese dynamische Entwicklung dürfte mit dazu beigetragen haben, dass es regelmäßig Warnungen vor er­höhter Inflation gegeben hat – wozu es aber nie gekommen ist. Woraus wiederum so mancher Beobachter die Schlussfolgerung gezogen hat, die Geldmengentwicklung als Frühindikator für die Güter- und Dienstleistungspreisinflation sei (endgültig) tot.

Breitere Aggregate wie M3, das zusätzlich Termin- und Spareinlagen beinhaltet, wuchsen hingegen über den gesamten Zeitraum lediglich verhalten. Zur Abschätzung von Inflationsrisiken ist der Blick auf diese Größe empirisch jedoch hilfreicher als die Betrachtung anderer Geldmengen, weil hierin sämtliche nachfragerelevanten Komponenten enthalten sind. Er erklärt ex post, warum es in der vergangenen Dekade trotz beispiellos laxer Geldpolitik – die EZB-Bilanz hat sich in diesem Zeitraum fast verdoppelt – nicht zu inflationären Tendenzen gekommen ist. Der monetäre Wumms der Überschussliquidität ist vor allem in den Wertpapiermärkten gelandet, ohne bis dato deutliche Auswirkungen auf das orthodox-realwirtschaftliche Preisgefüge.

Doch allmählich droht Ungemach: Die jüngsten monetären Unterstützungspakete der EZB, die zur Bekämpfung der Covid-Pandemie geschnürt wurden, sind jetzt auch in M3 angekommen. Die Wachstumsrate lag zuletzt im Schnitt rund 10% über der des Vorjahres. Wenn die Umkehrung von Goodharts Beobachtung gilt, dann stehen die Inflationswarnzeichen somit auf „Dunkelgelb“.

Für Anleger bedeutet dies zweierlei. Erstens hält wahrscheinlich die Tendenz zur Bären-Versteilerung der Zinsstrukturkurven an. Neben besseren Konjunkturdaten über das Sommerhalbjahr – Stichwort: Rausimpfen aus der Pandemie – werden damit einhergehend auch höhere Inflationserwartungen eingepreist. Die Renditen am langen Ende dürften hierdurch anziehen, so dass sich Halter vieler Anleihen auf Kursverluste einstellen müssen. Dabei gilt für Zinsänderungen: Je länger die Duration, sprich die Restlaufzeit, desto höher ist das Kursrisiko. Zweitens dürfte sich der Geldüberhang daraufhin bis auf weiteres noch stärker in risikoreichere Assets verlagern, nicht zuletzt unterstützt durch die Hoffnung, dass die Zentralbanken bei Markteinbrüchen als „Anlegerschützer“ schon gegenhalten werden. Die Stichworte hierfür sind „größter Put der Geschichte“ oder finanzielle Dominanz: Die Notenbanken richten sich in einer Art umgekehrter Maßgeblichkeit nach den Signalen und Bedürfnissen der Finanzmärkte und nicht andersherum.

Zusätzliche Unsicherheit und Vo­la­tilität resultiert daraus, dass sich die Kapitalmärkte in einem labilen Überbewertungsgleichgewicht be­finden: Viele Anlagebereiche sind durch die Liquiditätsflut bereits sportlich gepreist. Um sich als Anleger in einer derartigen Situation auf Turbulenzen – schnelle Wechsel zwischen extremen Szenarien – vorzubereiten, bedarf es eines hohen Maßes an Flexibilität. Die taktische Segmentsteuerung muss noch aktiver aufgestellt sein, um notfalls auch deutlich umschichten zu können. Zusätzlich anzuraten ist eine breite Streuung bei Klassen, Sektoren und Einzelwerten sowie ein dynamisches Risikomanagement. Bei Letzterem gilt es, weg von starren Budgets hin zu gestaffelten, mit antizyklischen Elementen versehenen Prozessen zu kommen.

Ein monetäres Phänomen

Zusammenfassend sei Finanzmarktteilnehmern daher frei nach Mark Twain warnend zugerufen: „Die Nachricht vom Tod von M3 ist stark übertrieben.“ Aus der Geschichte wissen wir, dass Inflation in der Regel ein monetäres Phänomen ist. Es wäre waghalsig, darauf zu setzen, dass diesmal alles anders ist. Vielmehr muss es wohl heißen: „Aber wehe, wehe, wehe – wenn ich auf M3 sehe!“

Ingo Mainert ist CIO Multi Asset Europe bei Allianz Global Investors.

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