Ernährungskrise

Weltweiter Hunger wird zum Sicherheits­risiko

Der Hunger nimmt weltweit wieder zu. Die akute Ernährungskrise infolge der Coronakrise und des Ukraine-Kriegs verursacht nicht nur mehr Ungleichheit – sie ist auch eine handfeste Gefahr für die internationale Sicherheit.

Weltweiter Hunger wird zum Sicherheits­risiko

Es waren drastische Worte, die David Beasley im Menschenrechtsausschuss des Bundestags in der vergangenen Woche fand. Der Chef des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) warnte für 2023 eindringlich vor einer globalen Ernährungskrise. Die zunehmend spürbare Klimakrise und die Auswirkungen der Corona-Pandemie hätten Millionen Menschen ihre Ernährungssicherheit gekostet. Der Krieg in der Ukraine, dem „Brotkorb der Welt“, habe die Lage noch einmal drastisch verschlimmert. Hunger sei kein peripheres Problem mehr, die Staaten müssten reagieren, appellierte Beasley. Sonst drohten steigende Ungleichheit, Massenmigration und noch mehr bewaffnete Konflikte.

Dabei hatte die internationale Staatengemeinschaft bis zur Verbreitung des Coronavirus messbare Fortschritte gemacht: Trotz der wachsenden Weltbevölkerung war die Zahl der unterernährten Menschen seit 2010 stabil geblieben, in einigen Jahren sogar leicht zurückgegangen. Doch seit dem Ausbruch der Pandemie ist ihre Zahl auf den höchsten Stand in der Geschichte gestiegen: Das WFP zählt derzeit 828 Millionen Menschen, die unterernährt sind. Tendenz steigend. Akut vom Hungertod bedroht seien 345 Millionen Menschen – viermal so viele wie noch vor fünf Jahren, als Beasley sein Amt antrat.

Im aktuellen Welthungerbericht, den das WFP Mitte Oktober veröffentlichte, heißt es zur Begründung: „Die Welt ist mit einer Reihe sich überschneidender chronischer und akuter Krisen konfrontiert, die Schwachstellen im globalen Ernährungssystem aufdecken und Fortschritte bei der Beendigung von Hunger untergraben.“ Die Haupttreiber für diese Entwicklung seien zum einen der Klimawandel, der in vielen Ländern durch Sturmfluten, Dürreperioden oder verheerende Waldbrände längst Realität geworden ist, gewaltsame Konflikte unterschiedlichen Ursprungs und Rezessionen – einschließlich der durch die Coronakrise verursachten.

Der Ukraine-Krieg hat die Situation noch einmal deutlich verschlimmert (siehe nebenstehender Text). Die Preise für Nahrungsmittel, Düngemittel und Energie sind seit Ausbruch der Pandemie nahezu weltweit teilweise um ein Vielfaches gestiegen. Damit wird das Stillen grundlegender Bedürfnisse der Menschen in vielen Ländern schlicht zu teuer. Betroffen sind dem WFP zufolge besonders solche Länder, die ohnehin bereits aufgrund von Armut, Ungleichheit, schwachen Institutionen, schlechter Regierungsführung und Korruption vulnerabel sind.

Konfliktspirale

Die Ernährungskrise wird befördert durch gewaltsame Konflikte und kann diese gleichzeitig verursachen. Die Zahl solcher Konflikte hat zwischen 2010 und 2019 deutlich zugenommen (siehe Grafik). Und nicht nur das: Diese dauern zudem immer länger und werden komplexer. Gleichzeitig kann Ernährungsunsicherheit bzw. akuter Hunger zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen, die wiederum die Lebensbedingungen vor Ort erschweren. Es entsteht eine Negativspirale aus Hunger und Gewalt.

Zwar lassen sich direkte Zusammenhänge zwischen Ressourcenknappheit wie Nahrungsmittelmangel oder Energiekrise wissenschaftlich nur schwierig nachweisen. Gerade in politisch fragilen Ländern und Regionen können diese Mängel aber zu gewaltsamen Konflikten führen. So geschehen etwa vor dem sogenannten Arabischen Frühling. Die Demonstrationen gegen das Regime des tunesischen Diktators Zine el-Abidine Ben Ali begannen 2014 als Proteste gegen die hohen Baguette-Preise. Konflikt- und Entwicklungsforschern zufolge waren diese zwar nur einer der Gründe, sich gegen das Regime aufzulehnen, es war aber letztlich der entscheidende Grund, der die Menschen – in einer komplexen politischen Notsituation – auf die Straßen trieb.

„Hunger ist immer auch politisch. Steigende Preise waren der Funken, der den Arabischen Frühling ausgelöst hat“, sagt Martin Frick, Deutschland-Chef des WFP, der Börsen-Zeitung. Vor 15 Jahren seien in 40 Staaten Unruhen ausgebrochen, weil die Nahrungsmittelpreise explodiert waren. Ähnliches spiele sich derzeit in Haiti, Sri Lanka und den Ländern der Sahelzone ab. „Die wirtschaftliche Ausgangslage ist dabei noch schlechter als 2007/08“, sagt Frick. Viele Staaten kämpften mit Schuldenlasten und der hohen Inflation – auch in Folge der Corona-Pandemie. Das UN-Entwicklungsprogramm UNDP gehe davon aus, „dass die Armutsbekämpfung um zehn Jahre zurückgeworfen wurde, und so drohen in mehr Ländern Hunger und soziale Unruhen“, sagt Frick und mahnt: „Der Kampf gegen den Hunger ist nicht nur ein humanitärer Imperativ, sondern auch ein sicherheitspolitischer.“

Mehr Mittel mit System

In den sicherheitspolitischen Kontext rückte auch Bundesaußenministerin Annalena Baerbock die Ernährungskrise in einer Rede des Berliner Forums Außenpolitik der Körber-Stiftung. „Mit dem Kampf gegen die Klimakrise, mit unserem gemeinsamen energischen Eintreten gegen die Ernährungskrise, unserem Einsatz für das Völkerrecht stützen wir unsere Partner“, erklärte die Grünen-Politikerin. „Aber wir schützen vor allen Dingen unsere ureigenen Sicherheitsinteressen.“ Ein wichtiger Grund für die Bundesregierung, ihre Mittel für die Bekämpfung des Hungers noch einmal aufzustocken.

Im Sommer hatte die Bundesregierung auf dem G7-Gipfel in Elmau eine Globale Allianz für Ernährungssicherheit (GAFS) ins Leben gerufen, um rascher auf die Nahrungsmittelkrise reagieren zu können. Mitte Oktober verkündete Bundesentwicklungsministerin Steffi Lemke (Grüne), dass Deutschland weitere 450 Mill. Euro für die Bekämpfung des weltweiten Hungers beisteuere. Als Reaktion auf den Ukraine-Krieg wurden im Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für das laufende Jahr insgesamt 880 Mill. Euro zusätzlich für Ernährungssicherheit vorgesehen.

Bei seinem Besuch im Bundestag appellierte WFP-Direktor Beasley denn auch an die Staatengemeinschaft, mehr Geld zur Verfügung zu stellen, „um die Versorgungssicherheit in den betroffenen Ländern zu sichern und Hungersnöte, Destabilisierung und Massenflucht zu verhindern“. Es sei zehnmal günstiger, vor Ort für regelmäßige Mahlzeiten etwa in Schulen zu sorgen, als sich später um Geflüchtete zu kümmern. Deutschland habe diese „harte Lektion“ während des syrischen Bürgerkriegs gelernt und sein Engagement für das Welternährungsprogramm deutlich erhöht. Es übernehme seither Verantwortung „in nie dagewesener Art und Weise“, lobte er.

Um über systemische Ansätze nicht nur Ernährungssicherheit sicherzustellen, sondern auch das Klima zu schützen, Migrationsgründe anzugehen, Frauenrechte zu stärken und so die Grundlage für Stabilität und Frieden zu schaffen, brauche es „neben aufgestockter humanitärer Hilfe mehr Investitionen in langfristige Lösungen, um Menschen gegen kommende Krisen zu wappnen“, erklärt WFP-Deutschlandchef Frick. Denn wie kurz die finanzielle Hilfe greift, merken die Vereinten Nationen gerade selbst. Die hohen Preise muss auch die Hilfsorganisation bezahlen, für die Spendengelder, die eingehen, bekommt die Organisation deshalb heute deutlich weniger Nahrungsmittel, die sie verteilen kann. Auch die Transport- und Logistikkosten für die humanitäre Hilfe steigen.

Angesichts der dritten Nahrungsmittelpreisekrise innerhalb von nur eineinhalb Jahrzehnten sei es offensichtlicher denn je, „dass unsere derzeitigen Ernährungssysteme ungeeignet sind, Armut und Hunger nachhaltig zu beenden“, schreibt Mathias Mogge, Generalsekretär der Welthungerhilfe, im Vorwort des Welthungerindex. „Die gegenwärtigen Krisen legen chronische Schwachstellen offen“, mahnt Mogge. „Sowohl der Fokus der Politik als auch die bereitgestellten Mittel müssen auf evidenzbasierte Strategien und Investitionen ausgerichtet sein, die der Beseitigung struktureller Hindernisse für Ernährungssicherheit dienen.“ Konkret fordert die Welthungerhilfe eine langfristige Transformation hin zu gerechteren, inklusiveren und nachhaltigeren Ernährungssystemen – mit Kontrollmöglichkeiten für die Betroffenen. Auch das Recht auf Nahrung soll die Politik demnach viel stärker in den Fokus ihrer Entwicklungsarbeit nehmen. Aktuell ist jedoch kaum Besserung in Sicht, denn die Energiekrise bindet viele Kapazitäten der internationalen Politik.

Von Anna Steiner, Frankfurt

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